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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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eingestellt werden und die Szene ohne Unterbrechung filmen. Denn weitere Klappen würde es nicht geben. Die Szene ließ sich nicht wiederholen. Daher würden alle Kameras gleichzeitig laufen, jeweils bestückt mit einer Spule für zwanzig Minuten Film. Eine Rolle. Länger würde die Handlung nicht dauern.
    Die Idee stammte von Arty Short. Dieses System garantierte ihnen einen Realismus, der ansonsten nicht zu erzielen wäre. Und die Szene, die sie im Begriff waren zu drehen, verlangte absoluten Realismus. Die Sache war kostspielig, keine Frage. Doch in letzter Zeit liefen die Geschäfte gut, sehr gut. Und der zusätzliche Aufwand würde noch mehr Geld einbringen.
    »Eine neue Ära hat begonnen«, hatte Arty zu seinem Schützling gesagt, den alle als den Punisher kannten. »Mit uns beiden«, hatte der Regisseur betont, »beginnt eine neue Ära.«
    Das Mädchen stand nun still in den Kulissen und knetete nervös die Hände. Sie war verlegen, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Die Anspannung war groß. Sie versuchte zu lächeln, aber alles war dunkel; sie konnte weder das Filmteam noch den Regisseur hinter dem Gitterzaun erkennen und fühlte sich ein wenig unbehaglich. Man hatte sie am Tag zuvor angesprochen, als sie zusammen mit Dutzenden anderer Mädchen für eine Komparsenrolle in The Wedding March unter der Regie Erich von Stroheims angestanden hatte. Ein Mann war mit den Worten an sie herangetreten, er biete ihr die Chance zu einem Vorsprechen, das, sollte man sich für sie entscheiden, ihrer Anonymität ein Ende bereiten würde. Es gehe um eine Hauptrolle, hatte man ihr versichert. In einem kleinen Film, den jedoch alle großen Hollywood-Produzenten anschauen würden. Und alle, die in Hollywood etwas zu sagen hatten. In der Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Von fiebriger Erregung ergriffen, hatte sie dagelegen. Sie hatte gehofft, die Maskenbildnerin werde die Spuren der durchwachten Nacht aus ihrem Gesicht zaubern, doch niemand schminkte sie. Sie bekam nur ein Kleid für die Szene. Und Unterwäsche. Die Kostümbildnerin erklärte ihr, der Regisseur sei ein Realismusfanatiker. Ihr aber kam es seltsam vor. Ebenso seltsam wie die Tatsache, dass keine anderen Mädchen zu dem Vorsprechen erschienen waren. Doch in Hollywood darf ein Mädchen nicht zu viele Fragen stellen, wenn es den Durchbruch schaffen wollte, sagte sie sich immer wieder. Letzten Endes war sie seit ihrer Ankunft in Los Angeles schon mehrere Kompromisse eingegangen, und sie hatte es nicht bereut. Für GraphiC hatte sie Modell gestanden, weil sie zuvor mit dem Fotografen ins Bett gegangen war. Außerdem hatte sie eine Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt, der mit dem Produzenten Jesse Lasky befreundet war, woraufhin sie ein paar Komparsenrollen bekommen hatte. Das war der Weg, um in Hollywood Karriere zu machen. Und um Karriere zu machen, war sie schließlich drei Jahre zuvor aus Corvallis, Oregon, im Herzen des Willamette Valley, fortgegangen. Sicher, wäre sie in Corvallis mit einem Fotografen und einem verheirateten Mann ins Bett gegangen, hätte man sie zur Nutte gestempelt, in Hollywood jedoch galten andere Spielregeln, deshalb fühlte sie sich auch nicht wie eine Nutte. Sie schlief nicht mit jedem, der ihr über den Weg lief. Sie tat es weder zum Spaß noch aus Lasterhaftigkeit. Der Fotograf und Jesse Laskys Freund waren die Einzigen gewesen. In Corvallis hätte ihr gutes Aussehen ihr allenfalls zu einer Heirat mit einem Gemeindeangestellten statt mit einem Holzfäller verholfen. Das war es, was Corvallis zu bieten hatte, ein Dorf, dessen Wahrzeichen die Chrysantheme war. In der Gemeindebibliothek hatte sie einmal gelesen, in einigen Teilen der Welt gelte die Chrysantheme als Blume der Toten. Und sie wollte ihr Leben nicht wie eine Tote verbringen.
    Die Tür zum Set ging auf, und der Regisseur kam herein. Er hatte ein zu hageres, pockennarbiges Gesicht und eine unsympathische Ausstrahlung. Aber sie wollte mehr vom Leben. Und daher lächelte sie ihn an.
    »Na, bist du bereit?«, fragte Arty Short.
    »Was soll ich tun?«, gab sie strahlend zurück, als wäre sie eine erfahrene Darstellerin. »Gibt es ein Drehbuch?«
    Arty musterte sie schweigend. Mit zusammengekniffenen Augen fuhr er ihr durch das Haar. Dann wandte er sich nach der offenen Tür um. »Ich will zwei Zöpfe!«, brüllte er.
    Schlurfend betrat eine unscheinbare Frau die Kulissen. In der Hand hielt sie vier Bänder, zwei rote und zwei blaue. »Soll ich eine Schleife

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