Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
begann da der alte Mann zu erzählen, ohne dass Ruth ihm eine Frage gestellt hatte. »Ich hätte es nie getan. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich aufgehört zu arbeiten und mich ihr mit Leib und Seele, Tag und Nacht, gewidmet. Nein, es war nicht meine Entscheidung.« Kurz trübte sich sein Blick bei der schmerzlichen Erinnerung. »Eines Tages ... es war schon einige Monate her, dass sie ›in die Falle geraten‹ war, wie sie ihre Krankheit immer umschrieben hat ... Eines Tages also setzte sie sich zu mir und sagte: ›Schau mich an, Clarence. Siehst du, dass ich bei klarem Verstand bin? Du musst mich in eine Nervenheilanstalt bringen.‹ Einfach so, ohne Vorrede, ohne Umschweife. Ich versuchte zu widersprechen, aber sie unterbrach mich sofort. ›Für Diskussionen bleibt mir keine Zeit, Clarence‹, sagte sie. ›Noch höchstens zehn Worte, dann rede ich wieder wirres Zeug. Sei nicht grausam zu mir, das warst du noch nie. Für Diskussionen bleibt mir keine Zeit.‹« Der Agent sah Ruth in die Augen. »Ich nahm ihre Hände in meine und blickte zu Boden, wie ein Feigling, weil mir die Tränen kamen, und ich wollte nicht ... ich wollte nicht, dass sie mich so schwach sah. Ich drückte ihre Hände und hob den Blick ... Da war sie schon nicht mehr sie selbst. Einfach ... nicht mehr da. Also tat ich, worum sie mich gebeten hatte. Denn hätte ich sie bei mir behalten, wäre ich ... grausam gewesen.« Mr. Baileys Augen lächelten traurig. Er nahm einen Schluck Tee, erhob sich und stellte sich mit dem Rücken zu Ruth ans Fenster. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, blickte er heiter drein. So als hätte er alle Wehmut von sich abgestreift.
    Die Teetasse wärmte Ruths Hände. Und Mr. Baileys Blick strahlte noch mehr Wärme aus. Mit einem Mal war ihre Angst verflogen, sie fühlte sich sicher. So wie bei ihrem Großvater. So wie bei Christmas.
    »Mrs. Bailey musste einen großen Willensakt vollbringen, um sich für einen Augenblick aus der Falle zu befreien und mich zu bitten, mir deine Fotos anzusehen«, hob Mr. Bailey wieder an. »Und sie hat es gleich zwei Mal getan. Sie ist außergewöhnlich stark ... meinst du nicht auch?«
    »Ja«, sagte Ruth leise.
    »Dann lass uns an die Arbeit gehen.«
    Er trat um den Schreibtisch herum, nahm Ruth bei der Hand und führte sie aus dem Büro. Überall an den Wänden der Agentur hingen Fotos. Mr. Bailey, der Ruth noch immer an der Hand hielt, blieb vor dem Büro der Sekretärin stehen. »Miss Odette, sollte ab morgen die Archivtür noch geschlossen sein, wenn Sie morgens kommen, gehen Sie nicht hinein und seien Sie nicht zu laut. Wir haben einen Gast.« Dann ging er weiter den Flur entlang bis zu einer hellen Holztür, die er öffnete. »Na los, hilf mir, das Zimmer hier leer zu räumen«, forderte er Ruth auf und machte sich daran, Mappen voller Fotos, die überall auf dem Boden und auf den Möbeln verstreut lagen, aufzusammeln und sie ins Nebenzimmer zu tragen, wo er sie ebenso unordentlich wieder verteilte. »Bis du etwas Besseres gefunden hast, kannst du hier schlafen. Meine Wohnung liegt genau über der Agentur, im fünften Stock. Wenn du etwas brauchst, klingel einfach. Im Grunde wäre auch dort Platz, aber ... na ja, also, es kommt mir ungehörig vor, wenn ein halber Witwer wie ich sich ein junges Mädchen ins Haus holt ... Meinst du nicht auch?«
    »Ja, Mr. Bailey«, gab Ruth lächelnd zurück und errötete.
    »Nenn mich Clarence. In dem Schrank da müssten Decken und Laken sein. Weißt du, wieso in diesem Zimmer ein Bett steht? Mrs. Bailey pflegte zu sagen, Künstler seien immer knapp bei Kasse, und ein guter Agent müsse sich ihrer annehmen, selbst wenn er an ihnen keinen Cent verdiene.« Mr. Bailey lachte. »Nicht sehr rentabel, diese Überlegung, aber mir hat sie immer gefallen.« Und wieder lachte er, während er die letzte Fotomappe hinaustrug und sie auf ein Sofa warf. »Meinst du nicht auch?«, fragte er, als er zurück ins Zimmer kam.
    Ruth nickte.
    Eine Tür fiel ins Schloss.
    »Odette geht immer, ohne sich zu verabschieden. Außer ihrem schrecklichen Namen hat sie auch noch diese Unart.« Mr. Bailey schmunzelte. »Denk nicht, sie hätte etwas gegen dich, das macht sie mit allen so. In manchen Dingen ist sie eine Art Wilde. Aber sie ist eine hervorragende Sekretärin. Und ein guter Mensch.«
    Wieder nickte Ruth. Sie sah aus dem Fenster. Die Sonne war bereits untergegangen.
    »Hast du zu Abend gegessen?«, erkundigte sich Mr. Bailey.
    »Ich bin nicht hungrig, vielen

Weitere Kostenlose Bücher