Der Junge, der Träume schenkte
die Rüschenhemden aufgeknöpft. Und sie fotografierte, wenn sich einer der kleinen Geburtstagsgäste erschöpft in eine Ecke fallen ließ, um ein wenig zu dösen. Oder sie hielt eine Rauferei im Foto fest. Oder die Tränen eines Mädchens, dem man das Satinröckchen zerrissen hatte. Und schließlich machte Ruth von einer Empore aus eine Gruppenaufnahme. Sie zeigte die Kinder, wie sie ausgehungert den Tisch mit den Süßigkeiten umlagerten. Geradezu ein Kriegsschauplatz.
»Was sollen denn das für Fotos sein?«, hörte Ruth in der Woche darauf, als sie die Agentur betrat, Albert Brestler zu Clarence sagen. »Sieht das für Sie nach einem Fest aus? Für mich ist das eine Beerdigung. Meine Frau ist ganz außer sich.«
Ruth blieb das Herz stehen. Im Büro war niemand sonst. Odette war schon gegangen. Sie näherte sich der Seitentür zu Mr. Baileys Büro, die einen Spalt offen stand, und lauschte.
»Was wollen Sie mir sagen, Mr. Brestler?«, fragte Clarence mit gelassener Stimme. »Ich nehme an, es geht Ihnen nicht um die Erstattung der Kosten, sonst hätten Sie sich nicht persönlich herbemüht. Habe ich recht?«
Ruth beobachtete, wie Mr. Brestler Platz nahm und die Fotos ohne ein Wort mit verärgerter Miene durchblätterte. »Je länger ich sie betrachte ... desto ...« Er unterbrach sich und seufzte. »Die Aufnahmen sind ... sie haben etwas ...«
»Ja, das dachte ich auch, als ich sie mir angesehen habe.«
»Aber Sie hätten die Kleine nicht schicken dürfen, um ein albernes Fest zu fotografieren, Clarence. Sie sind berühmt, weil Sie nie danebenliegen, das habe ich Ihnen immer zugestanden, aber dieses Mal ...« Wütend knallte Brestler die Fotos auf den Schreibtisch. »Meine Frau hat recht, das hier ist eine Beerdigung.«
Ruth blieb das Herz stehen. Keiner der Männer sagte ein Wort. Eine drückende Stille lag über dem Büro. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Doch sie war außerstande, sich zu bewegen.
»Angenommen, ich hätte Ihnen das Mädchen für einen wichtigeren Anlass vorgeschlagen, hätten Sie ihm dann eine Chance gegeben?«, fragte Clarence schließlich lächelnd.
Brestler schnaubte. »Nein, ich denke nicht.«
»Tja ...« Ruhig sah Clarence ihn an.
Brestler schüttelte den Kopf, blätterte erneut die Fotos durch und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm einen tiefen Lungenzug und stieß den Rauch langsam wieder aus. »Sie sind gut.«
»Ja, sie sind sehr gut.«
Ruth spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Und wieder wäre sie am liebsten davongelaufen.
»Also gut«, sagte Brestler. »Wen sollte sie Ihrer Meinung nach fotografieren?«
»Menschen, die nicht lachen.«
»Menschen, die nicht lachen ...«, brummte Brestler ungeduldig. »Was soll das heißen? Dramenschauspieler?«
»Dramenschauspieler, hervorragend.«
»Und wen sonst noch?«
»Fangen wir mit Dramenschauspielern an«, sagte Clarence gelassen. »Wenn es schöne Fotos sind, werden sich auch die, die immer lachen, fotografieren lassen wollen ... und dabei darauf achten, nicht zu lachen. Meinen Sie nicht auch?«
»Wie heißt das Mädchen?«
»Ruth Isaacson.«
»Eine Jüdin?«
»Danach habe ich sie nicht gefragt.«
»Jüdin zu sein, ist in Hollywood ein guter Passierschein.«
»Wenn das so ist frage ich sie danach.«
»Zum Teufel mit Ihnen, Clarence«, sagte Brestler und stand auf. Dann zeigte er auf die Aufnahmen seines Sohnes. »Aber die hier bezahle ich Ihnen nicht. Und sehen Sie zu, dass Sie mir schnellstens einen Kinderfotografen schicken, damit meine Frau Ruhe gibt und nicht noch die Scheidung einreicht.«
»Ist Ihnen der Fotograf vom letzten Jahr recht?«
»Sie sagten doch, der wäre gestorben.«
»Wirklich?« Clarence grinste. »Da habe ich wohl etwas durcheinandergebracht.«
Brestler lachte und verließ pfeifend das Büro – Ruth konnte sich gerade noch rechtzeitig hinter einem Schrank verstecken.
Da nahm Clarence die Fotos vom Fest zur Hand und betrachtete sie schweigend. »Komm herein, Ruth«, sagte er dann laut. »Was stehst du denn noch da draußen rum?«
Ruth erstarrte vor Scham. Mit hochrotem Kopf trat sie ein. »Clarence, verzeihen Sie ... ich ...«
»Von heute an bist du Fotografin für missmutige Filmstars«, unterbrach er sie lachend. »Was sagst du? Recht so?«
46
Manhattan, 1927
»Darf ich?«, fragte Christmas, als er früh am Morgen den Kopf in Sals Büro im ersten Stock des Hauses Monroe Street Nummer 320 steckte.
»Komm rein, Hosenscheißer«, antwortete Sal Tropea, der am
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