Der Junge, der Träume schenkte
Bildausschnitt möglich, aber versuche, sie zu reproduzieren, so gut es geht. Achte dabei vor allem auf Licht und Schatten. Du kannst alle meine Fotoapparate benutzen. Such dir den aus, der dir für das jeweilige Foto am geeignetsten erscheint.«
In den folgenden vier Wochen lernte Ruth alles über Filmentwicklung und Fotoabzüge und entdeckte, wie Mr. Bailey vorausgesagt hatte, den Zauber der Fotografie. Wie verschwommene Geister tauchten in der schummrigen Dunkelkammer die Motive allmählich auf dem Papier auf. Und während Ruth sich mit Reaktionsmitteln und Bädern vertraut machte, experimentierte sie mit den Fotoapparaten, die Mr. Bailey ihr zur Verfügung stellte, mit Magnesiumblitzlichtern und Stativen, fand heraus, wie lange die Platten belichtet werden mussten, und ihre Nase begann, zwischen Gelatine, Kaliumbichromat, Bromid und Silberchlorid zu unterscheiden. Abends studierte sie die Handbücher und beschäftigte sich mit der Geschichte der Fotografie, von den alten arabischen Gelehrten über die ersten Kontaktplatten zu den Daguerreotypien, der Ambrotypie und Ferrotypie bis hin zu den lichtempfindlichen Gelatinesubstanzen. Und beim Betrachten der Bildbände tauchte sie in die Seele der Fotografen und die enormen Möglichkeiten ein, mit einer auf Papier festgehaltenen Momentaufnahme eine ganze Geschichte zu erzählen.
Als sie glaubte, gut gerüstet zu sein, ging sie zu Mr. Bailey. »Ich bin fertig. Hier ist die Liste, um die Sie mich gebeten haben, und das sind die vier Fotos.«
»Gut gemacht«, sagte Clarence. »Nun bist du bereit für deinen ersten Auftrag.«
»Sie schauen sie sich gar nicht an?«
»Wieso sollte ich?«, gab Clarence zurück und kniff seine kleinen, wachen Augen zusammen. »Ich wäre niemals imstande, dir zu sagen, was du über dich selbst gelernt hast. Das kannst nur du allein wissen ... meinst du nicht auch?«
Seine Antwort verwirrte Ruth. Nachdenklich drehte sie das Resultat ihrer Arbeit zwischen den Fingern, und als sie schließlich begriff, lächelte sie. »Ja, Clarence.«
»Gut. Du musst zu Paramount. Morgen Nachmittag um vier. Du hast einen Termin mit Albert Brestler in Studio fünf. Der Mann ist sehr einflussreich. Adolph Zukor hört immer auf ihn.«
»Und ich soll ihn fotografieren?«, fragte Ruth erstaunt.
»Nein, es geht um seinen Sohn Douglas. Er wird sieben Jahre alt. Brestler gibt in Studio fünf ein Fest für ihn und seine Freunde. Mach ein paar Fotos von Douglas, wie er spielt und die Kerzen auspustet.«
»Ah ...«, entfuhr es Ruth.
»Was ist los?«
»Ich fotografiere nicht gern Menschen, die lachen.«
»Dann fotografier ihn, wenn er nicht lacht.«
Ruth stand reglos da und schwieg.
»Ist noch was?«, fragte Clarence abgelenkt.
Ruth wollte etwas sagen. Dann aber presste sie die Lippen zusammen und verließ das Büro.
Als Ruth am nächsten Tag im Studio fünf eintraf, war ihr nicht wohl zumute. Die Mütter der Kinder waren mit Schmuck behängt, als besuchten sie eine Premierenfeier. Die Kinder steckten in albernen Pagenkostümen im Stil des achtzehnten Jahrhunderts. Gewaltige Filmscheinwerfer leuchteten das ganze Studio taghell aus. Mitten in der Halle war eine kleine Bühne mit einem goldfarbenen Thron aufgebaut. Und auf dem Thron saß Douglas Brestler, ausstaffiert mit Krone und Zepter.
»Sie sind die Fotografin?«, fragte die Mutter des Geburtstagskindes, als sie Ruth hereinkommen sah. Sie musterte sie mit überheblichem Blick, bevor sie mit einer Handbewegung, die einem Dienstmädchen hätte gelten können, sagte: »Na los, Kleine, gehen Sie an die Arbeit.« Dann vergaß sie sie, als wäre sie gar nicht da.
Nach einer Weile fühlte Ruth sich immer weniger unwohl. Weder Eltern noch Kinder schienen von ihr Notiz zu nehmen. Sie war gleichsam unsichtbar.
Ruth schoss eine Reihe Fotos von Douglas, wie er mit ernstem Gesicht sein Geschenk betrachtete, ein kleines Flugzeug, dem bereits eine Tragfläche fehlte – einer der kleinen Gäste hatte sie abgebrochen. Danach fotografierte Ruth die gerötete Wange des Vandalen, nachdem er von seiner Mutter eine Ohrfeige verpasst bekommen hatte, und Mrs. Brestler mit vollem Mund und einem Klecks Sahne auf dem Kinn. Dann eine andere Mutter, die sich mit einem langen roten Fingernagel Essensreste aus den Zähnen stocherte. Und wieder eine andere, die eine Laufmasche in ihrem Strumpf begutachtete. Vor allem aber fotografierte Ruth die Kinder: verschwitzt, müde, die albernen altmodischen Halskrausen schokoladenverschmiert,
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