Der Junge, der Träume schenkte
Dank.«
»Wenn ich dir sagte, du seist zu dünn, würde Mrs. Bailey mit mir schimpfen«, bemerkte der Agent, »deshalb tu so, als hätte ich es nicht gesagt.« Er lächelte sie an und musterte sie eine Weile schweigend. »Tja, ich bin ein alter Mann, ich gehe gewöhnlich beizeiten schlafen. Fürchtest du dich hier alleine?«
»Nein ...«
»Dann schlaf gut.« Kopfschüttelnd blickte Clarence Bailey sich im Zimmer um. »Schön ist es nicht gerade, ich weiß. Aber mit der Zeit können wir es gemütlicher einrichten ...«
»Meinst du nicht auch?«, sagte Ruth leise und lachte so froh wie schon lange nicht mehr.
Der alte Agent fiel in ihr Lachen ein. »Wenn du möchtest, kannst du nächsten Sonntag mitkommen, wenn ich Mrs. Bailey besuche. Ich bin sicher, sie würde sich freuen.« Erneut trübte Wehmut seinen Blick. »Auch wenn sie es dir nie zeigen wird ...« Wieder sah er sich im Zimmer um. »Ah, das hatte ich vergessen. Die Schlüssel. Hier, nimm meine und schließ von innen ab. Morgen lassen wir einen Zweitschlüssel anfertigen.« Er streckte die Hand aus und streichelte mit großväterlich spröder Unbeholfenheit über Ruths schwarzes Haar. »Gute Nacht, mein Kind«, sagte er schließlich.
»Gute Nacht ... Clarence.«
Ruth wartete, bis sie die Agenturtür ins Schloss fallen hörte. Dann öffnete sie den Schrank und fand Laken und Decken. Sie bezog ihr Bett, eine einfache Liege mit vielen Kissen, die in einer Ecke an der Wand stand. Anschließend legte sie den grünen Krokodillederkoffer auf das Bett und ließ die beiden Schlösser aufschnappen. Sie holte das Foto ihres Großvaters hervor und stellte es auf ein Regal. Dann griff sie nach dem roten Herzanhänger, den Christmas ihr vor drei Jahren zum Abschied geschenkt hatte, und drückte ihn fest in ihrer Hand. Schließlich schob sie den Koffer unter das Bett und legte sich vollständig angezogen schlafen.
»Gute Nacht, Christmas«, sagte sie leise und schloss die Augen.
Mitten in der Nacht schreckte sie plötzlich aus dem Schlaf auf. Sie lief zur Eingangstür und schloss sie ab. »Verschwinde«, murmelte sie. »Verschwinde, Bill!« Ihre Stimme klang matt und verzweifelt. Schnell band Ruth das Lackherz um ihren Hals und kroch wieder ins Bett. Ich fürchte mich, dachte sie. Ich fürchte mich vor allem. Sie schloss die Augen und hoffte, möglichst bald wieder einzuschlafen. »Du hast dich auch vor Christmas gefürchtet, du dumme Gans«, sagte sie laut. Und da, zum ersten Mal nach all der Zeit, empfand sie so etwas wie Zärtlichkeit für sich selbst. Tränen traten in ihre Augen, aber es waren keine Tränen der Verzweiflung, sondern der Erleichterung.
Endlich konnte sie sich annehmen.
Ruth setzte sich auf, zog ihre Bluse aus und löste den Verband, der ihr die Brust abschnürte. Sie betrachtete die roten Druckstellen. Langsam, liebevoll streichelte sie darüber und ließ den scheußlichen roten Herzanhänger ihre Haut berühren. Dann sammelte sie die Mullbinden auf und warf sie in den Papierkorb. Zurück im Bett, zog sie die Bluse wieder an, und während sie mit Christmas’ Herz auf ihrer Haut in den Schlaf sank, stellte sie verwundert fest, dass sie ohne die beengenden Verbände wieder freier atmen konnte.
»Solange du noch keine regelmäßigen Aufträge hast, kannst du in der übrigen Zeit auch die Fotos der anderen entwickeln«, sagte Mr. Bailey am nächsten Morgen in seinem Büro. »Die Dunkelkammer ist eine gute Schule. Man lernt viel über die Prinzipien der Fotografie, und vor allem kommt man mit ihrem Zauber in Berührung. Ah ... in deinem Zimmer liegen zwei Bücherstapel. Der eine besteht aus technischen Handbüchern. Ich möchte, dass du sie durcharbeitest. Der andere Stapel umfasst eine Sammlung von Arbeiten der besten Fotografen der Welt. Schau sie dir aufmerksam an. Danach hätte ich gern, dass du eine Liste anfertigst von Fotografien, die dir gefallen und die dir nicht gefallen. In jeder der beiden Gruppen markierst du dann diejenigen Fotografen, mit denen du dich am wenigsten identifizieren kannst, und diejenigen, in deren Arbeiten du etwas von dir selbst wiederfindest. Danach wählst du vier Fotos aus. Eines, das du auf keinen Fall gemacht hättest, eines, das du gern gemacht hättest, eines, das zu machen du niemals in der Lage wärst, und dasjenige, das dich am besten beschreibt. Zu guter Letzt fotografierst du genau diese vier Bilder nach. Natürlich hast du nicht dasselbe Motiv zur Verfügung, und vielleicht ist auch kein identischer
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