Der Junge, der Träume schenkte
herein, Ruth?«, sagte Mr. Bailey.
Verlegen blieb sie an der Tür stehen, unfähig, sich zu rühren.
Die Villa in Holmby Hills zu verlassen war ihr nicht schwergefallen. Nach ihrer Entlassung aus der Klinik war ihr das große Haus noch ungastlicher vorgekommen. Der Salon, in dem ihre Eltern prunkvolle Feste gegeben hatten, war bis auf einige Möbelstücke von geringem Wert leer geräumt. Die einst mit Gemälden geschmückten Wände hatten Kunsthändler geplündert. Ohne ihren weichen Teppichbelag wirkten die Fußböden nackt. Im Swimmingpool war kein Wasser mehr, dort sammelte sich bereits Laub. Der Vater wartete den ganzen Tag auf mögliche Käufer oder schlich aus dem Haus, um seine neuen Geschäftspartner zu treffen. Wenn die Mutter mitbekam, wie ihr Mann sich davonstahl, lief sie ihm nach und schrie ihm hinterher: »Machst du Probeaufnahmen mit deinen Nutten? Komm wenigstens mit ein paar Dollar in der Tasche zurück, du Versager.« Danach sank sie wieder in den Sessel, in dem sie den Großteil ihrer Zeit verbrachte. Sie trank bereits am Vormittag.
Doch was Ruth den Entschluss fortzugehen leicht gemacht hatte, war nicht die bedrückende Atmosphäre in der Villa ihrer Eltern. Nachdem sie es drei Tage lang nicht geschafft hatte, ihre Ankündigung in die Tat umzusetzen, war der Vater am Morgen plötzlich in Begleitung eines geschniegelten Mannes mit hagerem Gesicht und eiskalten Augen in ihr Zimmer gekommen. Ohne Interesse hatte der Mann sich im Raum umgesehen. Mr. Isaacson starrte unterdessen zu Boden und vermied es, Ruths Blick zu begegnen. »Den da«, sagte der Mann schließlich und zeigte auf den Nachttisch, auf dem ein wertvoller alter Bilderrahmen aus Silber mit einer Daguerreotypie von Opa Saul stand. Ruths Vater rührte sich nicht. Also griff der Mann sich den Rahmen, öffnete die Rückwand, zog das Foto des alten Saul Isaacson heraus und warf es auf das Bett. Während er mit dem Rahmen in der Hand das Zimmer verließ, sagte er: »Was gibt es sonst noch zu sehen? Machen wir schnell, ich habe es eilig.« Ruths Vater fand nicht die Kraft, auch nur ein Wort an seine Tochter zu richten. Leise ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Noch am selben Tag hatte Ruth den Krokodillederkoffer hervorgeholt, ihre Kleider, die Daguerreotypie von Opa Saul und Christmas’ roten Herzanhänger hineingepackt und die Villa in Holmby Hills verlassen. Nein, es war ihr nicht schwergefallen.
»Komm doch herein, Ruth«, sagte Mr. Bailey erneut.
Ruth sah ihn an. Dann schlug sie den Blick nieder und starrte auf die Messingleiste am Boden, die den Hausflur wie eine Grenze von der Fotoagentur trennte. Mit einem Mal kam es ihr so vor, als fiele ihr dieser letzte Schritt schwerer als alle, die sie bis dahin getan hatte. Als gäbe es, wenn sie die Schwelle einmal überquert hatte, kein Zurück mehr von ihrem Entschluss. Und während sie auf die Messingleiste starrte, stiegen ihr auf einmal die Gerüche in die Nase, die ihr in der Monroe Street begegnet waren, als sie Christmas Lebewohl gesagt hatte. Und die gleichen Gerüche, die sie damals geängstigt hatten, empfand sie nun als tröstlich. Und für einen kurzen Augenblick spiegelte sich für sie in der Messingleiste nicht der alte Mr. Bailey, sondern Christmas. Sie sah sein fröhliches Lächeln, seine zerzauste blonde Stirnlocke, seine pechschwarzen Augen, seinen frechen Gesichtsausdruck. Und sie fühlte sich erfüllt von seiner Heiterkeit, seiner Spontaneität, seinem Mut und seinem Vertrauen in das Leben.
Da hob sie den Blick zu Mr. Bailey empor. Der Alte schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. »Wie geht es Mrs. Bailey?«, fragte sie.
»Unverändert«, antwortete er. »Komm herein ...«
»Fehlt sie Ihnen sehr?« Tiefe Wehmut schwang in ihrer Stimme mit, ihre Sehnsucht nach Christmas.
Mr. Bailey beugte sich vor, um Ruth den Koffer abzunehmen, und schob sie mit der freien Hand in die Agentur. »Komm. Lass uns drinnen weiterreden.«
Ruth sah, wie Mr. Bailey auf die Messingleiste trat. Ihr fiel auf, dass er nicht wie ihr Vater feine englische, sondern gediegene amerikanische Schuhe trug. Kurz zögerte Ruth, ehe sie schließlich die spiegelnde Grenze überwand. Ich habe es geschafft, dachte sie.
Zehn Minuten später stellte Mr. Baileys Sekretärin ein Tablett mit heißem Tee und Gebäck auf den Schreibtisch des Agenten. Dann verließ sie das Büro und schloss hinter sich leise die Tür.
»Es war nicht meine Entscheidung, Mrs. Bailey an diesen Ort zu bringen«,
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