Der Junge, der Träume schenkte
der ersten Folge gelungen war. Als die Einschaltquoten immer weiter sanken, beschloss die Geschäftsleitung von N. Y. Broadcast, die Sendung abzusetzen, und die Menschen lernten wieder, sich mit den altbekannten Witzen von Skinny und Fatso in Cookies zu begnügen.
»Kommt mit und seht es euch an«, sagte Cyril nach den zwei Monaten, als er an einem Abend, an dem der Vollmond leuchtend am sternenklaren Himmel stand, mit stolz vor der Brust verschränkten Armen vom holprigen Bürgersteig der 125th Street zu der als Uhr getarnten Sendeantenne hinaufblickte. Dann ging er über die Straße und betrat mit Christmas und Karl das Treppenhaus der Mietskaserne.
Sie stiegen in den fünften Stock hinauf, wo Cyril an eine braune Tür klopfte.
Kurz darauf erschien eine aufreizend schöne Frau um die dreißig in einem figurbetonten, weit ausgeschnittenen Kleid aus königsblauer Kunstseide in der Tür und lächelte. »Herein mit euch«, sagte sie.
»Das ist Sister Bessie«, stellte Cyril sie vor. »Sie war die Frau meines Bruders, doch der hat mehr Gefallen an der Flasche gefunden. Als ich zuletzt von ihm gehört habe, war er in Atlanta. Seit zwei Jahren aber wissen wir nichts mehr von ihm.«
»Seitdem arbeite ich als Hure«, sagte Sister Bessie, und ihre großen dunklen Augen blitzten wütend und stolz zugleich, während sie trotzig das Kinn hob.
Mit einem Mal war Christmas unbehaglich zumute. Er legte die Hand auf die Narbe an seiner Brust, auf das H wie Hure, das man ihm wegen des Berufs seiner Mutter eingeritzt hatte und das er von klein auf wie ein Brandmal mit sich herumtrug. Peinlich berührt blickte er zu Boden. Dabei fiel ihm die blonde Locke über die Augen.
»Sieh sich einer die Haare dieses weißen Jungen an«, bemerkte Sister Bessie und fuhr ihm mit der Hand hindurch.
Ruckartig drehte Christmas den Kopf weg.
Sister Bessie lachte. »Keine Sorge, ich will dich nicht verführen«, sagte sie in ihrem aufreizenden Tonfall. »Ich arbeite nicht zu Hause.«
In Christmas regte sich Unmut.
Sister Bessie nahm ihn bei der Hand und bedeutete auch Karl, ihr zu folgen. Sie führte die beiden vor eine verschlossene Tür und legte den Finger an die Lippen. Dann drückte sie die Klinke hinunter und wies auf zwei Betten. »Das sind meine Kleinen«, sagte sie leise.
Im Dämmerlicht erkannte Christmas zwei friedlich schlafende Kinder.
Sister Bessie zog ihn an der Hand ins Zimmer. Sie strich über den wuscheligen Lockenkopf eines fünfjährigen Mädchens, das im Schlaf am Daumen lutschte und eine Stoffpuppe an sich gedrückt hielt. »Das ist Bella-Rae«, flüsterte sie Christmas ins Ohr. Dann streichelte sie den kurz geschorenen Kopf des anderen Kindes.
Der Junge schlug die großen, müden Augen auf. »Mama ...«, murmelte er schlaftrunken.
»Schlaf weiter, mein Schatz«, sagte Sister Bessie. Der Kleine kuschelte sich unter die Bettdecke. »Er heißt Jonathan«, flüsterte Sister Bessie Christmas zu, »und ist sieben.«
Christmas lächelte verlegen. Unterdessen musste er daran zurückdenken, wie er selbst manchmal nachts in der Wohnung von Signora Sciacca weinend aufgewacht war und die dicke Frau und ihre Kinder ihm mit ihren ärgerlichen Blicken das Gefühl gegeben hatten, nicht willkommen zu sein. Dann erinnerte er sich, wie er, älter schon, auf der Pritsche in der kleinen Küche in der Monroe Street aus einem Albtraum hochgeschreckt war und nach seiner Mutter gerufen hatte, doch sie war nicht zu Hause gewesen. Dann war er in ihr Bett gekrochen, um wenigstens ihren Geruch einzuatmen.
Sister Bessie führte ihn aus dem Zimmer und schloss die Tür. »Sind das nicht zwei Engel?«
Christmas wurde von einer tiefen Melancholie ergriffen und ihm war, als befiele ihn, einer Krankheit gleich, wieder die schreckliche Einsamkeit, die er als Kind empfunden hatte. »Ja«, gab er zurück, während er schroff seine Hand aus Sister Bessies Umklammerung zurückzog.
»Ganz schön kratzbürstig, dieser Junge«, sagte Sister Bessie lachend.
»Sister Bessie, wir sollten jetzt ...«, hob Cyril an.
»Seid ihr zum Arbeiten oder zum Schwatzen hergekommen?«, schnitt ihm die Frau unwirsch das Wort ab. »Das Zimmer stelle ich euch zur Verfügung, aber ich habe keine Zeit, einen Salon zu veranstalten.« Damit drehte sie sich um und verschwand in ihrem Schlafzimmer.
Cyril brach in Gelächter aus. Gemeinsam mit Christmas und Karl betrat er dann das Zimmer, das Sister Bessie ihnen überlassen hatte, da es genau unter der großen Antenne lag.
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