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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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erstarrte. »Das glaube ich nicht.«
    Neal Howe lachte. »Sie können ihn jederzeit selbst fragen, meinen Sie nicht? Es sei denn, Sie beschließen, unsere heutige Unterhaltung für sich zu behalten und ernsthaft darüber nachzudenken, was für ein Leben Ihnen mit zehntausend Dollar im Jahr möglich wäre.« Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah Howe ihn an. »Wir sehen uns in einer Woche, Mr. Luminita.«
    Wie betäubt stand Christmas einen Moment reglos da. Dann drehte er sich um und verließ den Sitzungssaal.
    »Sorgt dafür, dass Karl Jarach zu Ohren kommt, der Junge sei hergekommen, um sich und die Sendung zu verkaufen«, wies Neal Howe seine Mitarbeiter an.
    Christmas torkelte wie ein Betrunkener durch das Treppenhaus von N. Y. Broadcast. Zwei Informationen überschlugen sich in seinem Kopf. Zehntausend Dollar im Jahr ... Karl wollte CKC an Neal Howe verkaufen ...
    In den folgenden drei Tagen war Christmas auffallend schweigsam. Er sprach nicht über die Unterredung mit Neal Howe und zog sich in sich selbst zurück. Plötzlich war er sich nämlich nicht mehr so sicher, ob Howe gelogen hatte. War Karl vielleicht doch ein Verräter?
    Darum also pocht er so auf einen Qualitätssprung, grübelte Christmas, nachdem er Sister Bessies Wohnung so überstürzt verlassen hatte. Darum sagt er, wir könnten uns nicht ewig halten. Er ist dabei, uns zu verkaufen. Ohne uns ein Wort zu sagen, überlegte er weiter, während er die Treppe zu seiner tristen Wohnung hinaufstieg. Und je wütender er wurde, desto grässlicher kamen ihm dieses Haus, dieses Leben vor. Die Risse in der Wand erschienen ihm mit einem Mal unerträglich, seine Kleider schäbig wie die eines Bettlers. Er glaubt, er könnte uns hin und her bewegen wie willenlose Marionetten, dachte er wütend, während er die Wohnungstür aufschloss und der strenge Knoblauchgeruch, der sich in den Wänden festsetzte, ihm in die Nase stieg. Als er den Blick über seine Pritsche in der Küche, das ärmliche Wohnzimmer und die billigen Möbel schweifen ließ, hatte er keinen Zweifel mehr, dass Karl ein widerlicher Verräter war.
    Scheißkerl, dachte er.

54
    Manhattan, 1928
    Er war völlig außer Atem. Seine Beine schmerzten. Doch er durfte nicht stehen bleiben, er durfte nicht aufhören zu rennen, er konnte sie hinter sich hören. Als er in die Water Street einbog, bemerkte er einen Hafenarbeiter, der mit der Werkzeugtasche auf dem Rücken heimkehrte. »He!«, schrie er verzweifelt. »Hilf mir!«
    Der Hafenarbeiter drehte sich nach dem Jungen im grellbunten Anzug um, der, vor Erschöpfung taumelnd, auf ihn zugerannt kam, verfolgt von zwei finsteren Gestalten mit Pistolen in der Hand. Und weiter hinten tauchte plötzlich ein Wagen ohne Licht auf.
    »Hilf mir!«, schrie der Junge.
    Der Hafenarbeiter blickte sich um, bevor er in einem Hauseingang verschwand und gerade die Tür schließen wollte, als der Junge ihn erreichte und sich hineinzudrängen versuchte.
    »Hilf mir! Die bringen mich um!«
    Der Hafenarbeiter sah dem Jungen ins Gesicht. Seine Züge waren vor Angst und Anstrengung verzerrt. Er hatte dunkle Augen, die von tiefen schwarzen Schatten umringt waren. Schweigend starrte der Hafenarbeiter ihn an, während der keuchende Atem des Jungen durch den Türspalt drang.
    »Hilf mir ...!«, wisperte der Junge mit Tränen in den Augen.
    Da stemmte sich der Hafenarbeiter mit der Schulter gegen die Tür und sperrte ihn aus.
    Joey blickte sich nach seinen Verfolgern um. Er rannte weiter. Doch seine Beine waren nun schwer vor Müdigkeit. Er bog in die Jackson Street ein. Vor ihm zeichneten sich der dunkle Wasserspiegel des East River und dahinter die gewellten Konturen von Vinegar Hill ab. Er rutschte aus, fiel hin, rappelte sich wieder auf und rannte weiter, doch noch vor dem South-Street-Viadukt hatte ihn der dunkle Wagen eingeholt und schnitt ihm scharf den Weg ab. Die Türen gingen auf.
    Joey blieb stehen. Er drehte sich um. Die beiden Verfolger hinter ihm rannten nicht mehr. Schwer atmend, aber grinsend kamen sie in aller Ruhe näher. Mit einem Mal war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Joey senkte den Blick und bemerkte, dass er sich beim Sturz die Hose seines Hundertfünfzig-Dollar-Anzugs am Knie aufgerissen hatte. Und er dachte daran zurück, wie er einmal als kleiner Junge hingefallen war und Abe der Trottel, sein Vater, seine Krawatte mit Spucke angefeuchtet, ihm damit das Knie gesäubert und schließlich zu Hause seine Hose geflickt hatte. Da sackte er zu Boden und

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