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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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bemerken, wie wir uns ansehen«, sagte Maria lächelnd. »Und es würde ihm nicht gefallen.«
    »Würde er mich töten?«
    Maria lächelte. »Ich liebe Ramon. Ich möchte nicht, dass er leidet.«
    »Ihr werdet glücklich sein«, sagte Christmas wehmütig.
    Maria legte ihre Wange an seine. Mit den Lippen berührte sie seinen Hals. »Denkst du an sie?«, flüsterte sie sanft.
    Christmas stand auf und begann, sich anzuziehen. »Jeden Tag. Jede Sekunde«, antwortete er.
    »Komm her.« Maria breitete die Arme aus. »Sag mir Auf Wiedersehen, bevor du gehst.«
    Christmas knöpfte seine Jacke zu, beugte sich dann über Maria und küsste sie zärtlich auf den Mund. »Du bist schön«, sagte er. Seine Augen hatten einen wehmütigen Ausdruck. »Es ist schade, nicht mehr mit dir lachen zu können.«
    »Ja ...«
    »Ich gehe dann jetzt ...«
    »Ja ...«
    Sie sahen sich lächelnd an. Zwei Liebende, die einander ohne Qual verließen. Zwei Freunde, die sich verloren. Zwei Spielkameraden, deren Wege sich trennten. Sie lächelten sich an in dem Bewusstsein des zarten Schmerzes, den sie einander zufügten.
    »Es ist noch früh ... willst du nicht noch ein bisschen bleiben?«, fragte sie.
    Kopfschüttelnd streichelte Christmas ihr Gesicht. »Nein. Ich habe noch einen Termin vor der Sendung.«
    Maria zwinkerte ihm zu. »Was kann es Interessanteres geben, als bei mir zu bleiben?«
    Christmas lächelte, ohne zu antworten.
    »Nun?«
    »Ich muss mich von einem Freund verabschieden.«
    »Ah ...«
    Sie sahen sich an.
    »Ich gehe dann jetzt ...«
    »Ja ...«
    Noch immer hielten sich ihre Blicke fest.
    »Du wirst sie finden«, sagte Maria schließlich und drückte seine Hand.
    Christmas lächelte ihr zu, drehte sich um und ließ die Wohnung und Maria hinter sich zurück.
    Er stieg in einen Zug der BMT-Linie und saß einfach da, den Blick auf einen verrosteten Bolzen gerichtet, ohne darauf zu achten, wer ein- und ausstieg. Innerlich wappnete er sich gegen einen weiteren Abschied. Endgültig. Schmerzhaft. Unvermeidlich.
    Dabei kreiste ein Teil seiner Gedanken wieder um Karl den Verräter. Scheißkerl, dachte er grollend. Verkaufen will er uns. Du kommst auch noch an die Reihe, sagte er zu sich selbst.
    Als er seine Haltestelle erreicht hatte, stieg er aus und ging langsam, ohne Eile, zu Fuß weiter. Er durchquerte das Eingangstor des Mount Zion Cemetery, lief die stillen Wege entlang, bis er schließlich – in einem abgelegenen Winkel des jüdischen Friedhofs – auf einen Mann und eine Frau traf. Der Mann, dem Christmas noch nie begegnet war, trug einen an Ärmeln und Kragen abgewetzten dunkelgrauen Anzug und die Yarmulke auf dem Kopf, die Frau einen Schleier. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. In ihren Wintersachen schwitzten die beiden in der sommerlichen Schwüle.
    Christmas näherte sich ihnen und fragte: »Darf ich bleiben?«
    Der Mann und die Frau wandten den Kopf und sahen ihn ausdruckslos an. Sie wirkten weder überrascht noch verärgert. Dann blickten sie wieder auf den kleinen weißen Grabstein, in den ein Davidstern eingemeißelt war.
    Yosseph Fein. 1906–1928 , lautete die Inschrift.
    Nichts weiter. Kein geliebter Sohn , kein Hinweis darauf, dass der Verstorbene von allen Joey genannt worden war und den Spitznamen Sticky getragen hatte, weil ihm sämtliche Geldbörsen an den Händen kleben geblieben waren.
    »Wenn Abe der Trottel ins Gras beißt, wird man ihn auf dem Mount Zion Cemetery in eine Grube werfen, und auf dem Grab wird stehen: Geboren 1874. Gestorben ... Ach, was weiß ich. Schluss, aus. Und weißt du, wieso? Weil es zum Verrecken über Abe den Trottel nicht mehr zu sagen gibt«, hatte Joey einmal zutiefst verächtlich gesagt. Nun lag er selbst in dem Grab, das er sich für seinen Vater ausgemalt hatte.
    Natürlich stand auf dem Grabstein nichts davon, dass Joey Schutzgelder für die Glücksspielautomaten anderer Leute eingetrieben, mit Drogen gedealt und durch Schlamming mehr als sein Vater verdient hatte. Es blieb unerwähnt, dass er Meyer Lansky einen Teil des Geldes geklaut hatte, das die Gewerkschaft der Organisation zusteckte, um sich den Schutz der jüdischen Mafia zu sichern. Auf dem Grabstein stand nicht, dass man Joey erdrosselt und auf den Müll geworfen hatte.
    Es wurde nicht einmal erwähnt, dass Christmas sein einziger Freund gewesen war.
    Nur drei Menschen erwiesen Joey in dem abgelegenen Winkel des Mount Zion Cemetery die letzte Ehre: seine Eltern und Christmas. Wie zwei Salzsäulen standen Mr. und Mrs.

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