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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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eingeklemmt zwischen den Klingen der Gartenschere, und das Fischmesser, das in die Hand seines Vaters eindrang und dann in den Bauch und zwischen die Rippen seiner Mutter. Und er sah die beiden Leichen auf dem Boden liegen, sah, wie die Blutlache sich ausbreitete und eine Fischschuppe auf der blutigen Pfütze schwamm. Und er hörte den letzten Atemzug des irischen Jungen, dessen Identität und Geld er gestohlen hatte, und sah das frische Gesicht seiner Verlobten, die auf der Fähre der
    Einwanderungsbehörde nach ihm suchte und laut seinen Namen rief. In Sekundenschnelle, schneller als mit seinem LaSalle, raste Bill noch einmal durch sein Leben – ein Leben voller Gewalt, Vergewaltigung und Missbrauch. Es ist aus, dachte er panisch. All das Blut, das er vergossen, all die Tränen, die er verursacht hatte, sickerten in sein Hirn, während ihm die Trommelfelle unter dem anhaltenden Klingeln und der schrillen Stimme eines der beiden Polizisten zu platzen drohten.
    »Cochrann Fennore, machen Sie auf! Polizei!«, brüllte der Polizist immer wieder.
    In Panik kletterte Bill durch ein offenes Fenster ins Haus, zog sich hastig an und lief zum hölzernen Gartentor auf der Rückseite. Er stieß es auf, sah sich um und rannte los. Er rannte und rannte, bis er atemlos zusammenbrach. Da kroch er hinter einen Busch und rang nach Atem. Doch ringsum färbte sich alles rot. Blut sprudelte aus dem Boden, aus den verdorrten Zweigen. Selbst der Himmel war mit Rot übergossen. Bill sprang auf und rannte weiter, floh mehr vor sich selbst als vor der Polizei. Und während er rannte, ohne zu wissen, wohin, begann es in seinem Kopf immer lauter zu surren. Bill hielt sich die Ohren zu und schrie, um das Surren zu übertönen. Er stolperte, schlug hin und rollte eine steile Böschung hinab. Zweige zerkratzen ihm Gesicht und Hände. Jäh bremste auf halbem Weg ein Baumstamm seinen Sturz. Bill krümmte sich vor Schmerz und versuchte aufzustehen. Seine Beine gaben nach, er rutschte weg und rollte weiter bergab. Schließlich bekam er eine Wurzel zu fassen. Er keuchte. Doch das Surren in seinen Ohren wollte nicht verstummen. Plötzlich explodierten glitzernde Farben vor seinen Augen, bevor alles schwarz wurde.
    Und mitten im Schwarz hob das vertraute Surren wieder an. Die Filmkamera lief. Und er saß mitten am Set. Auf einem unbequem harten Lehnstuhl. Er versuchte, sich zu bewegen. Seine Hände und Füße waren mit Lederriemen gefesselt. Hinter sich hörte er Stimmen. Er wollte sich umdrehen, aber auch sein Kopf und sein Kinn waren fixiert. Und aus einer kalten Kugelhaube, die oben an seinem Schädel befestigt war, tropfte eine noch kältere Flüssigkeit. Wasser. Reines Wasser. Der beste Stromleiter. Er saß auf dem elektrischen Stuhl ... Ruth tauchte auf. In der Uniform eines Gefängniswärters trat sie an ihn heran und streichelte sein Gesicht. Ihr fehlte ein Finger. Aus der Wunde quoll Blut. Voller Bewunderung, fast so, als betete sie ihn an, sah Ruth ihn an. »Ich liebe dich«, flüsterte sie ihm zu. In dem Augenblick jedoch hob ein Regisseur – Erich von Stroheim vielleicht – sein Sprachrohr an den Mund und brüllte: »Und bitte!« Da wechselte Ruth den Gesichtsausdruck. Sie warf Bill einen eiskalten Blick zu und legte mit der blutenden Hand den Stromhebel um. Bill spürte, wie der Stromstoß seinen ganzen Körper durchfuhr, während Ruth lachte und von Stroheim immer weiter »Und bitte!« brüllte und die zehntausend Watt starken Scheinwerfer ihn blendeten und die Kameras hämisch surrend seinen Tod filmten.
    Schreiend schlug Bill die Augen auf.
    Es war Nacht. Noch immer klammerte er sich an die Wurzel. Alles war dunkel. Bill hatte keine Ahnung, wo er war.
    Und er hatte Angst. Wie damals, als er klein gewesen war und sein Vater mit dem Gürtel auf ihn zugekommen war. Eine Angst, die ihm den Atem stocken und die Hände und Beine gefrieren ließ. Wie immer, wenn es Nacht war.
    Da stiegen Bill langsam Tränen in die Augen, liefen über seine Wangen und vermischten sich mit der Erde in seinem Gesicht zu schlammigen Schlieren.
    Die ganze Nacht über klammerte sich Bill, die Füße gegen einen Stein stemmend, an die Wurzel, zitternd, allein mit der Last seiner Natur. Allein mit dem Grauen, dem er sich nun schon sechs Jahre ausgeliefert hatte. Und er verlor sich in dieser Finsternis. Er fand den Weg nicht mehr. Die Bilder der Vergangenheit, die Zeit, die verging, alles vermischte sich und überlagerte einander, seine leidvolle Kindheit und seine

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