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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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brüllte er etwas zu ihnen herüber.
    Sal hatte sich Cetta zugewandt und hielt ihr einen mächtigen schwarzen Finger unter die Nase. »Vergleich mich nie wieder mit einem Toten«, warnte er sie. »Das bringt Unglück.« Damit fuhr er weiter.
    Cetta spürte, wie ihr die Tränen kamen, ohne dass sie es sich erklären konnte. Um sie zurückzuhalten, biss sie sich auf die Lippen. Als sie vor dem Bordell hielten, stieg sie eilig, ohne sich von Sal zu verabschieden, aus und hatte auch kein Ohr für die fröhlichen Klänge aus der nahe gelegenen 28th Street zwischen Broadway und 6th Avenue, wo Dutzende von Pianisten die angesagtesten Stücke spielten.
    »Hey, du«, rief Sal ihr durch die offene Wagentür nach.
    Cetta, die schon einen Fuß auf der Treppe hatte, drehte sich um.
    »Komm her«, sagte Sal.
    Mit verkniffenem Mund ging Cetta widerwillig zurück. Ma’am – wie sie und die anderen Prostituierten die Bordellbetreiberin nannten – hatte ihr geraten, Sal niemals den Gehorsam zu verweigern, egal, was passierte.
    »Du bist sechzehn, richtig?«, fragte er sie.
    »Ich bin einundzwanzig, aber ich sehe jünger aus«, sagte Cetta unwillkürlich, was man sie gelehrt hatte zu sagen für den Fall, dass plötzlich einmal die Polizei auftauchte. Sie nahm an, Sal unterzöge sie einem Test.
    »Wir sind hier unter uns«, gab er zurück.
    »Okay, ich bin sechzehn«, gestand Cetta trotzig.
    Lange sah Sal sie nachdenklich an. »Ich hole dich morgen früh um elf ab. Sieh zu, dass du dann fertig bist! Und lass die Rotznase bei Tonia und Vito«, fügte er noch hinzu, bevor er die Wagentür zuzog.
    Cetta drehte sich um und ging ins Haus.
    Sal blickte ihr nach und dachte: Sie ist noch ein Kind. Dann legte er den Gang ein und fuhr zu Moe’s , dem Diner, in dessen Hinterzimmer er die meiste Zeit des Tages verbrachte und sich mit anderen finsteren Gestalten seines Kalibers darüber austauschte, was in der Stadt vor sich ging, wer tot und wer lebendig war, wer aufstieg und wer unterging, wer noch als Freund galt und wer von heute auf morgen zum Feind erklärt worden war.
    Cetta betrat derweil in ihren schlichten Mädchenkleidern das Bordell, ging in die Schneiderei, schlüpfte aus ihren Sachen und zog das Mieder an, das ihren Busen anhob und dabei die dunklen Brustwarzen unbedeckt ließ, die Strumpfbänder, die grünen Strümpfe, die ihr so gefielen, und zuletzt ihr Lieblingskleid, das dunkelblaue mit den goldfarbenen Pailletten, die zufällig über den Stoff verstreut waren und funkelten wie die Sterne am Nachthimmel. Es war wie das Gewand der Muttergottes bei der Dorfprozession. Als Cetta in die hochhackigen Schuhe stieg, in denen sie viel größer wirkte, spürte sie im linken Bein ein Kribbeln. Instinktiv nahm sie eine krumme Haltung ein und zog die Schulter, die ihre Mutter ihr damals festgebunden hatte, nach unten. Keine vier Jahre waren seither vergangen, doch kam es Cetta vor wie ein ganzes Leben.
    Sie schlug sich mit der Faust auf das Bein.
    »Was machst du denn da?«, fragte die Dicke, die sich um die Garderobe der Prostituierten kümmerte.
    Cetta gab keine Antwort, sie sah die andere nicht einmal an. Die Schneiderin – wie sie im Bordell genannt wurde – war jemand, mit dem man sich besser nicht einließ. Keines der Mädchen vertraute ihr auch nur das Geringste an. Sie war eine Frau, die von Gift verseucht war und Gift verspritzte. Eine, der man besser aus dem Weg ging. Cetta rührte sich nicht, bis sie spürte, wie das Kribbeln in ihrem Bein nachließ. Als sie schließlich hinausging, lächelte sie ihrem Spiegelbild zu. Amerika ist wirklich ein Zauberland, dachte Cetta. Ihr Bein war so gut wie geheilt. Das Lähmungsgefühl stellte sich immer seltener ein. Und keinem fiel auf, dass sie hinkte.
    Mit ihrem ersten Geld war Cetta zu einem Schuhmacher gegangen – jedoch nicht in der Lower East Side, sondern in einem Viertel, wo niemand sie kannte – und hatte den Absatz ihres linken Schuhs um eine halbe Daumenlänge anheben lassen, nur den einen. Seitdem hatte sich ihre Haltung begradigt.
    Als Cetta nun den Salon betrat – den großen Raum voller Sessel und Sofas, in dem die Mädchen warteten, bis sie von einem Freier ausgewählt wurden –, war sie wie immer guter Laune. Sie begrüßte ihre Kolleginnen und setzte sich so in einen Sessel, dass ihre Beine in den grünen Strümpfen gut zur Geltung kamen.
    Zwei Mädchen – Frida, eine Deutsche, groß, kräftig und blond, und Sadie, genannt die Gräfin , weil sie angeblich einer

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