Der Junge, der Träume schenkte
auf der Flucht gewesen war. Er hatte die Wohnung besichtigt und bemerkt, dass er aus einem Fenster des Apartments die Parkbank sehen konnte. Der Blick von hier oben ist erträglich, hatte er gedacht.
Und da hatte er begriffen.
Christmas bog in die 12th Street ein und nahm dann die 4th Avenue. Weiter hinten konnte er die Bowery erkennen. An der Ecke zur 3rd Avenue warf er einen Blick auf die Speakeasy -Kneipe, in der seine Mutter abends als Kellnerin arbeitete.
»Fahr hin und finde sie.« Aber natürlich, nun war ihm klar, wieso ihn erst Cyril darauf hatte bringen müssen. Es ging um eine Angst, die er sich nie hatte eingestehen wollen und die er jetzt plötzlich nicht mehr in sich begraben konnte. Denn nun war er reich. Er hatte es geschafft. Er war kein Illegaler mehr, und das bedeutete, es war an der Zeit, aus der Deckung hervorzukommen. Denn er hatte nie Angst davor gehabt, Ruth nicht finden zu können, sondern vielmehr davor, sie zu finden und nicht halten zu können.
Vier Jahre waren nun vergangen, seit die Isaacsons von New York nach Los Angeles gezogen waren, vier Jahre seit dem Abend in der Grand Central Station, als er nicht den Mut gehabt hatte, die Hand an die Scheibe des Zugwaggons zu legen, der Ruth mit sich fortnahm. Vier Jahre, seit Ruth verschwunden war, ohne je auf seine Briefe zu antworten. Denn Ruth hatte ihn verlassen, vermutlich auch vergessen – erst jetzt, inmitten der Menschenmassen auf der Bowery, gestand Christmas es sich ein. Denn Ruth hatte ihn abgewiesen. Christmas war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er den kleinen Junge mit dem hageren, schmutzigen Gesicht gar nicht bemerkte, der laut ausrief: » Diamond Dogs nicht länger illegal! CKC von WNYC aufgekauft!«
Abgewiesen, dachte Christmas, während er die Houston Street überquerte und weiter der Bowery folgte.
Und wenn Ruth ihn abgewiesen, vergessen, aus ihrem Leben ausradiert hatte, warum sollte es sie dann freuen, wenn er sie fand? Selbst wenn er nun reich und berühmt war, selbst wenn er ihrer und ihres Reichtums jetzt würdig war, selbst wenn er ihr nun eine Zukunft bieten konnte. Er musste an die Geschichte von Martin Eden zurückdenken, die er als Kind gelesen hatte, an Martins tragischen Aufstieg und Fall. An seine Liebe zu Ruth Morse, an die bemerkenswerte Namensgleichheit, die Christmas wie ein Zeichen des Schicksals erschienen war, als er seine Ruth in einer schmutzigen Gasse mitten in der Lower East Side gefunden hatte. An die bemerkenswerte Übereinstimmung von sozialer Herkunft und Erfolg. Einem Erfolg, der nichts einbrachte. Martin gehörte nicht länger zum einfachen Volk und würde niemals wirklich zu der goldenen Welt gehören, zu der er aufstrebte. Martin war hoffnungslos allein. Auf der Jagd nach seinem stolzen Traum vom Ruhm hatte er sich selbst verloren.
Mitten im Gewühl der Bowery hatte Christmas Angst, Martin Eden zu sein. Und er hatte Angst, dass Ruth nicht mehr Ruth war.
Aber da war noch eine andere, subtilere, verborgenere Furcht, der er nicht entrinnen konnte. Bisher hatte jede Frau, mit der er im Laufe der Jahre geschlafen hatte, für ihn zumindest für einen winzigen Moment Ruth verkörpert. So hatte Christmas sie für einen Augenblick besitzen können. Damit hatte er sich zufriedengegeben, wie er sich nun eingestand. Aus Angst vor der Ernüchterung. Aus Angst, das Leben, die Wirklichkeit würden ihm Ruth endgültig entreißen. Sogar in seinen Träumen.
Doch jetzt, als er die verwitterte Tür in der Monroe Street Nummer 320 öffnete, konnte er nicht länger träumen. Und während ihm die Treppe in den ersten Stock mit jeder Stufe steiler und mühsamer zu erklimmen schien, erkannte er, dass Geld ihn nicht zu einem besseren Menschen machte, wie er immer geglaubt hatte. Sein Glück würde nicht vom Erfolg abhängen. Auch das wurde ihm nun klar. Vielmehr musste er etwas in seinem Inneren verändern.
Aber er wusste nicht, ob er dazu jemals die Kraft finden würde.
Eine Woche war vergangen, seit er den Vertrag unterzeichnet hatte, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte. Eine Woche, in der er vor sich selbst und vor Ruth weggelaufen war, in der er eine Wohnung in einem Haus für Reiche gekauft hatte und in der ihm aufgefallen war, dass er Joey und Maria vergessen hatte. Eine Woche, in der er zu keiner Zeit daran gedacht hatte, Ruth in Los Angeles zu suchen.
»Fahr hin und finde sie.« Cyril hatte ihn erst darauf bringen müssen. Weil er selbst nun voller Angst war.
Er betrat die Wohnung.
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