Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
seiner und ein weiteres aus Ronnies Hosentasche.
    »Okay, jetzt heißt es mutig sein, mein Freund«, sagte der junge Mann mit verstellter Stimme und Cowboyakzent zu Ronnie und schob ihm das Stöckchen zwischen die Zähne. »Wir haben kein Betäubungsmittel. Beiß ganz fest auf den Stock. Und Sie, Schwester, stillen die Blutung, während ich operiere«, sagte er zu Ruth und reichte ihr eines der beiden Taschentücher. Das andere hielt er unter den Wasserstrahl.
    Ruth knotete dem Jungen das Taschentuch um den Schenkel.
    »Bist du bereit, mein Freund?«, erkundigte sich der junge Mann bei Ronnie.
    Das Kind nickte, das Stöckchen im Mund.
    Der junge Mann ließ Wasser über die Wunde laufen und spülte den Sand heraus. Mit zusammengebissenen Zähnen stieß Ronnie einen Schrei aus, bevor er theatralisch den Kopf in den Nacken fallen ließ und die Augen schloss.
    »Armer Kerl«, sagte der junge Mann zu Ruth. »Es war zu viel für ihn. Er ist bewusstlos. Na ja, ist vielleicht besser so«, fuhr er augenzwinkernd fort. »Die Verletzung ist sehr schlimm. Er wird sowieso sterben. Für uns ist er bloß unnötiger Ballast, der uns auf unserem Weg hinderlich wäre. Lassen wir ihn hier als Mahlzeit für die Kojoten liegen.«
    Sofort schlug Ronnie die Augen auf. »Lass mich nicht hier liegen, Bastard«, sagte er.
    Ruth lachte.
    Der junge Mann verband Ronnies Knie und nahm ihn auf den Arm. »In Ordnung, gehen wir nach Hause, du zäher Bursche.« Dann sah er zu Ruth hinüber. »Ich weiß nicht, ob sie es gemerkt haben, aber ich bin nicht sein Vater.«
    Wieder lachte Ruth.
    »Ich heiße Daniel«, stellte sich der junge Mann vor und reichte ihr die Hand. »Daniel Slater.«
    »Ruth«, sagte sie und ergriff seine Hand.
    Unbeholfen hielt Daniel sie fest. Er starrte ihr ins Gesicht und wusste offenbar nicht mehr, was er sagen sollte. Und seine hellen Augen verrieten, wie sehr er es bedauerte, sich nun von ihr verabschieden zu müssen.
    »Du musst die Krankenschwester bezahlen«, sagte da Ronnie.
    Daniels Blick leuchtete auf. »Er hat recht. Sie haben gute Arbeit geleistet ... Schwester Ruth.« Er wandte sich zu einer Straße um, die von zweigeschossigen, völlig gleich aussehenden Reihenhäusern mit einem Stückchen Rasen vor der Tür und einer schmalen seitlichen Zufahrt zur Garage gesäumt war. »Wir wohnen da drüben. Um diese Zeit hat Mama sicher schon den Apfelkuchen aus dem Ofen geholt. Was halten Sie von einem Stück?«
    »Au ja!«, rief Ronnie.
    Ruth blickte hinüber zur Straße mit den Reihenhäusern.
    »Meine Mutter backt einen sagenhaft guten Kuchen«, sagte Daniel.
    Seine Ungezwungenheit war verflogen. Vielleicht ist er unter der gebräunten Haut sogar rot geworden, dachte Ruth. Und seine blauen Augen suchten unentwegt ihren Blick, bevor sie sich gleich wieder nervös auf den Boden richteten. Es schien, so dachte sie, als wäre er älter und zugleich jünger als sie. Und immer, wenn er den Kopf senkte, fiel ihm die duftige blonde Locke ins Gesicht und schimmerte im Sonnenlicht wie reifer Weizen. Ruth dachte an Christmas, an das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte. Abermals betrachtete sie die Reihenhäuser, die allesamt so gleich, so vertrauenerweckend aussahen, und ihr war, als könnte sie den Duft von Äpfeln und gebranntem Zucker riechen. Mit einem Mal fühlte sie sich weniger allein.
    »Magst du mitkommen?«
    »Ja ...«, hauchte Ruth wie zu sich selbst. Dann sah sie Daniel ins Gesicht. »Ja«, wiederholte sie laut.

59
    Manhattan, 1928
    Seit über einer Stunde stand Christmas am Fenster seines neuen Apartments im elften Stock. Es lag am Central Park West, Ecke 71st Street. Von hier oben schaute er hinab auf den Central Park und konnte die Bank erkennen, auf der Ruth und er einst gesessen hatten, wo sie zusammen gelacht und geredet hatten. Damals, als sie beide noch Kinder gewesen waren. Als Christmas noch keine Ahnung gehabt hatte, was aus seinem Leben einmal werden würde. Nur, dass er es an Ruth binden wollte, hatte er gewusst.
    Das Apartment hatte er genau aus dem Grund gekauft: weil er von hier oben ihre Bank sehen konnte. Denn er hatte zu lange nicht mehr hingeschaut. Er hatte sich in das Radioabenteuer gestürzt, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen, wie ein Stier, der mit gesenktem Kopf losstürmt. Und nun hatte er das Bedürfnis, innezuhalten und hinzuschauen, sich Fragen zu stellen und Antworten zu finden.
    »Cyril und ich organisieren den Umzug und kümmern uns um die technischen Dinge. Es wird mindestens

Weitere Kostenlose Bücher