Der Junge, der Träume schenkte
Cetta erwartete ihn bereits. Sie lag auf dem Sofa und lächelte ihn an.
»In zwei Wochen fahre ich nach Hollywood«, sagte Christmas, noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er hielt den Kopf gesenkt, als teilte er seiner Mutter etwas mit, dessen er sich schämen musste.
Cetta erwiderte nichts. Sie kannte ihren Sohn in- und auswendig. Und sie erkannte sofort, wenn seine Worte einen tieferen Sinn als den offensichtlichen hatten. Sie sah Christmas nur an und wartete, bis er den Blick zu ihr erhob. Da winkte sie ihn zu sich. Und als Christmas neben sie sank, nahm sie seine Hand und drückte sie schweigend. »Bist du stolz auf mich, Mama?«, fragte Christmas nach einer Weile.
Cetta drückte seine Hand noch fester. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr.«
»Ich bin ein Feigling«, erklärte er und ließ wieder den Kopf hängen.
Cetta erwiderte nichts.
»Ich habe Angst.«
Cetta schwieg noch immer und hielt seine Hand.
Da sah Christmas zu ihr auf. »Machst du mir keine Vorwürfe?« Er lächelte. »Sagst du mir nicht einmal, dass ein echter Amerikaner niemals Angst hat?«
»Dann würde ich die Amerikaner für Idioten halten.«
Christmas lächelte noch immer. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Mama.«
»Du hast gesagt, du fährst nach Hollywood.«
»Warum, weiß ich selbst nicht«, murmelte Christmas kopfschüttelnd.
»Angst zu haben hat nichts mit Feigheit zu tun. Lügen dagegen haben immer etwas mit Feigheit zu tun«, sagte Cetta und streichelte ihm über das Haar.
»Wie hast du das all die Jahre geschafft, Mama?«, fragte Christmas und rückte ein wenig von ihr ab. »Woher hast du die Kraft genommen?«
»Du bist viel stärker als ich.«
»Nein, Mama ...«
»Oh doch. Du bist Wolfsblut, weißt du nicht mehr?«
»Ich bin Martin Eden.«
»Red keinen Unsinn. Du bist Wolfsblut.«
Christmas grinste. »Mit dir kann man nicht reden. Immer willst du recht haben.«
»Ich habe immer recht.«
Christmas lachte. »Stimmt.«
»Also ...«, fragte Cetta, »warum fährst du nach Hollywood?«
»Einer von den wichtigen Leuten hat mich eingeladen, er möchte, dass ich Geschichten schreibe für ...«
»Warum fährst du nach Hollywood?«, fiel Cetta ihm ins Wort.
Schweigend sah Christmas sie an.
»Der Vorhang öffnet sich«, begann Cetta. »Erinnerst du dich, dass ich dir, als du noch ein Junge warst, immer vom Theater erzählt habe? Also, der Vorhang öffnet sich. Auf dem Boden, in der Mitte der Bühne, liegt ein Mädchen, das von einem Drachen fast zerfleischt wurde. Es liegt im Sterben. Aber wie das Schicksal es will, reitet in dem Moment ein armer Ritter auf seinem Maultier vorbei. Er ist so arm, dass sein Schwert nur aus Holz ist, doch er ist schön und blond und stark. Er ist der Held. Und das Publikum weiß das. Es hält den Atem an, als er hereingeritten kommt. Das Orchester spielt eine düstere Melodie, weil es ein dramatischer Moment ist. So fängt die Geschichte an. Der Ritter rettet das Mädchen. Und es stellt sich heraus, dass es eine Prinzessin ist ...«, Cetta verzog den Mund, »auch wenn ich bezweifle, dass es unter den Juden Könige und Prinzessinnen gibt ...«
»Mama!«, protestierte Christmas lachend.
»Es ist Liebe auf den ersten Blick«, erzählte sie weiter. »Die beiden schauen sich in die Augen und ...«
»... sehen, was niemand anders sehen kann ...«
»Psst, sei still ... und dann macht sich der Ritter, der weder Ländereien noch Titel oder Schätze besitzt, um auf die Hand der Prinzessin hoffen zu können, auf eine lange Reise. Als Erstes trifft er auf einen reichen Händler, dessen Tochter Lilliput von einer bösen Hexe in den verkrüppelten Körper einer räudigen Hündin eingesperrt wurde, und der Ritter befreit sie von dem Fluch. So kommt er zu seiner ersten Goldmünze. Dann kommt der weise alte König zu ihm in seinen ärmlichen Stall, und von da an betrachten die Dorfbewohner den Ritter mit anderen Augen und glauben, sein Holzschwert sei aus feinstem Stahl. Und schließlich schenkt die Prinzessin dem Ritter zum Zeichen ihrer Dankbarkeit und als Liebespfand eine goldene Trompete, damit er die schönsten Melodien spielen kann. Und der Ritter spielt so gut, dass bald das ganze Publikum von seiner engelsgleichen Musik verzaubert ist. So wird der Ritter reich und berühmt. Die Prinzessin jedoch ist von ihrer bösen Stiefmutter in den Turm gesperrt worden. Sie kann ihn nicht hören. Und so wird die Melodie von Tag zu Tag herzzerreißender. Bis der Ritter eines
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