Der Junge, der Träume schenkte
bemerkte gar nicht, wie die Zeit verstrich, bis an einer Straßenecke sein Blick auf eine große Uhr fiel. Da wurde ihm klar, dass Mayers Chauffeur bereits vor dem Haus am Sunset Boulevard warten musste.
»Mr. Mayer hasst Unpünktlichkeit«, sagte der Fahrer auch gleich, als er Christmas erblickte.
»Dann fahr schnell!« Christmas stieg in den Wagen, aber Mayer war ihm vollkommen gleichgültig. Und während sie zu den Studios brausten, blickte er erneut zum Fenster hinaus auf die Leute.
Louis Mayer ließ ihn eine halbe Stunde auf einem Sofa im Vorzimmer zu seinem Büro warten. Eine Sekretärin nahm Dutzende Anrufe entgegen. Schließlich hörte Christmas ein Knistern in der Gegensprechanlage und eine Stimme: »Schick ihn herein!« Die Sekretärin sprang auf, öffnete die Bürotür und forderte Christmas auf einzutreten.
Mayer, der einen gewitzten, sympathischen Eindruck machte, empfing ihn an seinem Schreibtisch mit einem freundlichen Lächeln. »Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt, Mr. Luminita«, sagte er.
»Dunkelhaarig, buschige Augenbrauen bis zum Haaransatz, klein, Gorillagang und Knoblauchatem?«, fragte Christmas.
Mayer lachte. »Und eine Pistole im Hosenbund«, sagte er.
»Zurzeit sind in New York die Juden mit Pistole in der Überzahl«, entgegnete Christmas und grinste herausfordernd.
Mayer sah ihn an, während er zu verstehen versuchte. »Richtig, ich habe mich informiert. Wie es scheint, stehen Ihnen gewisse Juden weitaus näher als die Italiener.«
Wortlos erwiderte Christmas seinen Blick.
Louis Mayer lachte wieder, kurz, einem Hustenanfall gleich. »Nehmen Sie Platz, Mr. Luminita. Freut mich, dass Sie die lange Reise auf sich genommen haben.«
Noch immer blieb Christmas stumm.
Mayer nickte verhalten. »Sie sind ein Spieler, was?«, bemerkte er. »Schön, Spieler gefallen mir.« Das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb.
Christmas hatte den Eindruck, als könnte dieser Mann ebenso hart und erbarmungslos werden wie Rothstein. Und wie man hörte, war er gewiss nicht weniger mächtig. Er strahlte eine enorme Kraft aus. Christmas lächelte. Er mochte ihn.
»Haben Sie jemals geschrieben, Mr. Luminita?«
»Wollen Sie von mir wissen, ob ich lesen und schreiben kann?«
Mayer lachte. »Eigentlich nicht. Aber wir können auch damit anfangen.«
»Ich kann lesen und schreiben.«
»Und haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, professionell zu schreiben?«
»Nein.«
»Wer schreibt Ihnen denn das Drehbuch für Ihre Sendung?«
»Niemand. Ich improvisiere.«
Mayer warf ihm einen anerkennenden Blick zu. »Sie sind ein geborener Schauspieler, so jedenfalls schreiben es die Zeitungen, und einige meiner Freunde, die Ihnen jeden Abend um halb acht zuhören, sind auch dieser Meinung.«
»Ich will kein Schauspieler werden.«
Wieder lachte Mayer. »Grundgütiger, nein. Schauspieler vermehren sich in Hollywood wie die Kakerlaken in New York. Was ich brauche, sind Autoren. Findige Autoren, die mir etwas Neues und Aufregendes liefern können. Sind Sie dazu in der Lage?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wollen wir mit offenen Karten spielen?« Mayer erhob sich und ging um den Schreibtisch herum. Er klopfte Christmas auf die Schulter. »Ich habe die Zukunft im Blick. Und die Zukunft des Kinos liegt auch in den Charakteren, von denen Sie so vortrefflich erzählen können. Haben Sie schon einmal von den alten Römern gehört? Die hatten ein Stadion, in dem sich Menschen gegenseitig töteten oder von Löwen zerfleischt wurden. Und dieses Stadion war immer voll. Ausverkauft. Der Voyeurismus ist Teil der menschlichen Natur. Und ich ... das Kino ... muss darauf achten, was den Leuten gefällt. Es ist ein Spielzeug, das zu teuer ist, als dass es sich erlauben könnte, nicht zu gefallen. Können Sie mir folgen?«
»Das Publikum befiehlt, ja.«
»Das ist ein wenig zu kurz gefasst. Wir können den Geschmack des Publikums ja teilweise steuern«, sagte Mayer lächelnd. »Aber im Großen und Ganzen haben Sie recht. Das Publikum ist unser Herr. Und ein guter Produzent muss wissen, was es denkt. Amerika verlangt nach mehr. Es will auch Blut, es will das Leben, es will Bösewichte als Helden ... denn immer gibt es auch eine Schattenseite. Entscheidend ist, dass am Ende das Licht triumphiert. Sie, oder vielmehr Ihre Geschichten, haben beides, Licht und Schatten.« Mayer setzte sich neben Christmas. Mit einer Hand berührte er sein Bein. »Wollen Sie versuchen, Ihr Talent dem Film zu widmen?«
»Zunächst einmal weiß ich gar
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