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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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seltsamer, in einen Zug nach Los Angeles einzusteigen, anstatt auf dem Bahnsteig sitzen zu bleiben und dem davonfahrenden Zug nachzublicken, bis er nicht mehr zu sehen war. Obwohl Christmas nicht mehr der Junge von damals war, der eine komische Mütze in seinen Händen drehte, sondern einen Fahrschein erster Klasse besaß, war für ihn alles wieder so wie damals, kaum dass er auf seinem Platz saß. Ich werde dich finden, sagte er zu sich selbst. Und ihm war, als wäre Ruth erst gestern aus seinem Leben verschwunden.
    Ich werde dich finden. Christmas dachte an nichts anderes, während er nach Holmby Hills fuhr. Doch als er in die breite Straße mit den verzierten Gusslaternen einbog, kochte plötzlich all die Wut, die er die ganze Zeit unterdrückt hatte, in ihm hoch. Nicht ein Brief! Ruth hatte ihn aus ihrem Leben ausradiert. Als hätte er nie existiert. Er parkte den Wagen vor der großen Villa. Vehement drückte er auf die Klingel.
    Kurz darauf öffnete ein Butler in weißem Jackett das Tor.
    »Ich will zu Miss Ruth«, sagte Christmas.
    Der Butler schüttelte verwundert den Kopf. »Zu wem?«
    »Hier wohnen doch die Isaacsons, oder etwa nicht?«, sagte Christmas, noch immer beherrscht vom Zorn auf Ruth.
    »Nein, Sir. Sie haben sich in der Adresse geirrt.«
    »Unmöglich«, widersprach Christmas und lugte durch das Tor in den parkähnlichen Garten.
    »Wer ist da, Charles?«, fragte eine Frauenstimme.
    »Mrs. Isaacson«, rief Christmas. »Ich will zu Ruth.«
    Eine Frau tauchte hinter dem Butler auf. Sie war groß und blond. Ihre Hände steckten in Gartenhandschuhen. »Sagten Sie Isaacson?«, fragte sie freundlich.
    »Ja ...«
    »Die wohnen hier nicht mehr.«
    Christmas spürte, wie seine Knie zu zittern begannen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war fest davon ausgegangen, alles wäre noch so, wie es gewesen war, nichts hätte sich bewegt, weil er sich nicht bewegt hatte. Mit einem Mal war in seinem Herzen kein Platz mehr für die Wut, die er wenige Augenblicke zuvor noch gehegt hatte. Trotz der kalifornischen Hitze gefror ihm das Blut in den Adern. Er fühlte sich schwach. Und er hatte Angst, womöglich zu spät nach Los Angeles gekommen zu sein. »Wissen Sie denn ... wo sie ... hingezogen sind?«
    »Nein, tut mir leid.«
    »Aber ... wie kann das sein?«
    Neugierig musterte die Frau ihn. »Ich habe keine Ahnung, wo sie wohnen«, erklärte sie. »Aber suchen Sie nicht in den reichen Vierteln nach ihnen«, fügte sie hinzu. »Sie steckten in finanziellen Schwierigkeiten.«
    Wortlos starrte Christmas sie einen Moment lang an, bevor er sich umdrehte und zum Auto zurückging. Mit hängendem Kopf lehnte er sich gegen das Verdeck, unschlüssig, was er nun tun sollte.
    Christmas hörte, wie das Tor quietschend ins Schloss fiel. Los Angeles war riesengroß. Er fühlte sich verloren, ohne jede Hoffnung. Mutlos setzte er sich hinter das Steuer und startete den Wagen. Während er durch die Straßen fuhr, musterte er die Menschen auf den Bürgersteigen. Nein, er hatte nicht damit gerechnet, Ruth nicht zu finden. Was, wenn alles anders war, als er es sich vorgestellt hatte? Was, wenn Ruth längst einen anderen hatte?
    Er hielt an. Hinter ihm hupte jemand. Christmas hörte es nicht. Vielleicht sollte er sich an einen Privatdetektiv wenden. Genug Geld hatte er nun, um einen Detektiv zu beauftragen. Nein, ich will dich selbst finden, sagte er sich jedoch. Ich muss dich selbst finden. Er blickte sich um. Ganz in der Nähe war ein Diner. Er parkte den Wagen und trat ein.
    »Haben Sie ein Telefonbuch?«, fragte er den Mann hinter der Theke.
    Der Mann deutete auf eine ramponierte Telefonkabine aus dunklem Holz, deren Tür schief in den Angeln hing.
    Christmas schlug eines der Telefonbücher auf. Ängstlich blätterte er. Nichts. Kein Isaacson in Los Angeles. Was, wenn sie in eine andere Stadt gezogen waren? Wütend knallte er das Telefonbuch zu.
    »He!«, rief der Mann hinter der Theke.
    Christmas drehte sich um, nahm ihn aber gar nicht wahr. Was, wenn Ruth geheiratet hatte und nun anders hieß? Er verließ das Diner, stieg ins Auto und fuhr aufs Neue ziellos umher, die Augen auf die Leute geheftet, die auf den Straßen unterwegs waren. Und kaum entdeckte er unter ihnen einen dunklen Lockenkopf, zuckte er zusammen. Wo bist du?, dachte er zwanghaft. Wo bist du nur? Und zum ersten Mal stellte er sich die Frage, ob vielleicht wirklich alles vorbei war. Ob er zu spät gekommen war. Und dabei drohte die Verzweiflung ihn zu verschlingen.
    Er

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