Der Junge, der Träume schenkte
nahm ein Blatt heraus und spannte es um die Walze. Eine Art Schauer überkam ihn. Und ihm gefiel das Geräusch, als die Walze sich drehte und das Papier einzog.
»So, jetzt lass deine Fantasie spielen«, sagte Nick. »Noch ist es ein weißes Blatt Papier. Nichts weiter als ein weißes Blatt Papier. Aber auf dieses Blatt kannst du deine Worte schreiben. Und deine Worte erschaffen eine Figur. Einen Mann, eine Frau, ein Kind. Und dieser Figur gibst du ein Schicksal mit. Ein ruhmvolles, tragisches, sieg- oder verlustreiches. Und dann kommen ein Regisseur und ein Schauspieler. Und die Worte werden verfilmt. Und schließlich, in einem gottverlassenen Kinosaal in ... keine Ahnung, denk dir selbst ein trostloses Nest am Arsch der Welt aus ... In diesem Saal also sitzen Leute, die das Schicksal miterleben, das du ersonnen hast. Sie fühlen sich in die Geschichte hineinversetzt und glauben, selbst an diesem wahren, aber erfundenen Ort zu sein, der seinen Ursprung hier, auf diesem Blatt Papier, hat.«
Erneut lief Christmas ein Schauer über den Rücken.
Nick beugte sich zu ihm vor. »Das ist es, worum wir dich bitten. Die Regeln dienen nur dazu, dieses Märchen zu inszenieren.«
Christmas sah ihn an. Dann sah er auf das weiße Blatt Papier. »Genau das tue ich bereits ...«
»Das wissen wir«, erwiderte Nick ernst. »Du hast eine außergewöhnliche Begabung. Aus diesem Grund bist du hier.«
Christmas musterte ihn schweigend. Doch dann richtete sich sein Blick wieder wie hypnotisiert auf das weiße Blatt. Und er empfand weder Unbehagen noch Furcht vor alldem Weiß, denn er wusste, er würde es füllen können.
»Versuch es«, sagte Nick. »Wenn es nicht funktioniert ...«
»Dann wirst du das Problem lösen«, grinste Christmas.
»Es gibt weder Sattel noch Kandare.«
Christmas strich über die Schreibmaschinentasten. Glatt fühlten sie sich an. Sie nahmen seine Fingerkuppen in ihrer leichten Vertiefung auf. Und aufs Neue lief ihm ein Schauer über den Rücken.
Nicholas wandte sich zur Tür.
»Nick«, sagte da Christmas, »löst du wirklich jedes Problem?«
»Dafür werde ich bezahlt.«
»Ich bin auf der Suche nach jemandem. Kennst du die Isaacsons?«
»Wen?«
»Philip Isaacson ist mit seiner Familie hierhergezogen, um als Produzent zu arbeiten.«
»Isaacson«, wiederholte Nick an der Türschwelle. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber gib uns etwas, Christmas.« Er zeigte auf die Schreibmaschine. Dann ging er aus dem Büro und schloss die Tür hinter sich.
Christmas blieb allein am Schreibtisch sitzen. Noch immer streichelten seine Fingerspitzen die Tasten der Schreibmaschine, drückten sie sanft, und er beobachtete, wie sich die Metallhebel aus dem Kranz hoben wie der Abzug einer Pistole, bereit, ihren Buchstaben in das unberührte Papier zu prägen. Den ersten Buchstaben eines Wortes. Das erste Wort eines Satzes. Den ersten Satz eines Schicksals, eines Lebens, das einzig von ihm abhing. Christmas bemerkte, wie aufgeregt er war. Wie an dem Abend, als er zum ersten Mal, in einem dunklen Rundfunksaal, ein Mikrofon in die Hand genommen hatte. Und genau wie damals fühlte er sich allein schon bei der Berührung der Tasten wohl. Er lachte leise und wählte eine Taste aus. Er schloss die Augen. Und im Dunkeln drückte er die Taste ganz durch. Er lauschte dem Schlag gegen das Farbband. Und dem Wagen, der einen Schritt vorrückte. Den sich wieder absenkenden Zungen, die das Farbband festhielten. Und dem Geräusch, mit dem der Typenhebel in den Kranz zurücksprang. Wieder lachte Christmas, öffnete die Augen, wählte die nächste Taste aus und schlug sie an. Und erneut lauschte er auf all die Geräusche, die so neu und zugleich so vertraut klangen. Und als er die dritte Taste auswählte, fiel ihm mit einem Mal auf, dass sie nah bei der ersten lag. Gleich daneben, in derselben Reihe. Er schlug sie an. Dann wandte er sich der vierten zu. Und auch die war ganz in der Nähe, eine Reihe darunter. Zwischen der dritten und der zweiten. So als wären die vier Buchstaben durch eine Linie miteinander verbunden.
R-U-T- H .
Eine Weile starrte Christmas auf die vier Buchstaben. Dann rückte er sich den Stuhl bequem zurecht und begann zu schreiben.
63
Los Angeles, 1928
Am Abend darauf tauchte Nick in der Tür des Büros auf, das MGM Christmas vorübergehend zugewiesen hatte.
Den Kopf über die Schreibmaschine gebeugt, gab Christmas ihm mit der Hand ein Zeichen, still zu sein. Mit dem rechten und linken Zeigefinger, den zwei
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