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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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auslöschte.

64
    Los Angeles, 1928
    Es war bereits Abend, als Christmas aus dem Bett aufstand. »Ich gehe in die Küche und schaue, ob ich etwas zu essen finde«, sagte er lächelnd zu Ruth. An der Tür blieb er stehen, kehrte noch mal zurück, sprang aufs Bett und umarmte Ruth stürmisch. Dann küsste er sie auf den Mund.
    Ruth erwiderte seinen Kuss.
    »Ich bin sofort wieder da.«
    »Ich laufe nicht weg«, gab Ruth zurück, doch schon, als sie die Worte aussprach, stieg ein seltsames Gefühl in ihr auf.
    Christmas lachte, stand auf und verschwand in den Flur.
    »Ich laufe nicht weg ...«, wiederholte Ruth leise und ernst, als berührten die Worte sie in ihrem tiefsten Inneren. Und in der plötzlich entstandenen Stille hörte Ruth ihre Gedanken und ihr Gewissen erwachen und wieder hervortreten. »Ich laufe nicht weg ...«, sagte sie erneut, noch leiser dieses Mal, als wollte sie den Satz, der einen Graben in ihrem Inneren gerissen hatte, selbst nicht hören. Ein unangenehmer Schauer lief ihr den Rücken herunter. Ihm folgte ein beklemmendes Gefühl. Schließlich schnürte es ihr die Kehle zu, und ihr Herz schien zu zittern, und aus Besorgnis wurde langsam Angst. Sie setzte sich auf, zog die nackten Beine an die Brust, umschlang sie mit den Armen und verbarg das Gesicht zwischen den Knien. Tief atmete sie ein und aus, die Augen fest geschlossen.
    Und zum ersten Mal, seit sie Christmas auf dem Venice Boulevard begegnet war, dachte sie an Daniel. Sie hatte ihn nicht angerufen. Er war ihr nicht ein einziges Mal, nicht für eine Sekunde, in den Sinn gekommen. Das laue Gefühl für Daniel war ausgelöscht worden von der wilden Leidenschaft für Christmas. Ruth hatte die Kontrolle verloren. Sie erinnerte sich an den Kuss am Strand, an das keusche, harmlose, nach Meersalz schmeckende Zusammentreffen von Lippen. Sie erinnerte sich an Daniels Hände, die sich schüchtern um ihre Schultern legten, an seine ängstliche Reaktion. Und gleich darauf sah sie sich wieder im Bett mit Christmas, ohne jede Scham, ohne jede Befangenheit, liebeshungrig, voller Leidenschaft und nackt. Christmas’ Küsse brannten noch auf ihrer Haut.
    Und zum ersten Mal, seit sie ihm begegnet war, breitete sich ein unkontrollierbares, höchst gefährliches Glücksgefühl in ihr aus, das ihr Angst machte, das sie erstickte und erdrückte, ein Glücksgefühl, das sie überschwemmte und zerbrach. Wie eine mächtige Flutwelle.
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie dieses Glück bemaß, das größer war als sie, größer als ihr Herz und ihre Seele. Und kaum begannen die Tränen zu fließen und Christmas’ Küsse und die Spuren seiner begehrlichen Hände von ihr abzuwaschen, spürte sie einen brennenden Schmerz, als würde man mit Schmirgelpapier über eine Wunde reiben.
    Über dieses Glück würde sie verrückt werden.
    Im nächsten Moment schrie, ohrenbetäubend und lautlos zugleich, der Schmerz tief in ihrem Inneren auf, wo sie noch Christmas’ Wärme spürte. Und sofort wurde der Schmerz von einer Welle der Verzweiflung fortgespült. Ihr Atem ging schwer und stoßweise.
    Unfähig zu denken, unfähig sich zurückzuhalten, sprang sie auf und zog sich hastig an, während ihr die Tränen unaufhörlich über das Gesicht rannen. Sie griff nach der Tasche mit ihren Fotoapparaten und stahl sich leise, wie eine Diebin, aus dem Schlafzimmer, in dem sie so glücklich gewesen war und das sie nun verrückt machte.
    Mit angehaltenem Atem schlich sie zur Haustür. Aus der Küche hörte sie noch Christmas’ Stimme, doch da war sie schon an der Tür, lief durch den Garten, öffnete das Tor und floh Hals über Kopf den Sunset Boulevard hinunter. Sie rannte, strauchelte, stürzte, rappelte sich wieder auf und versteckte sich, wenn sie von hinten ein Auto heranfahren hörte. Gestrüpp zerkratzte ihre Haut, und sie schürfte sich die Knie auf. Und während sie vor dem Glück floh, das sie nicht mehr ertragen konnte, weinte sie laut und immer lauter.
    Als ihr schließlich die Luft ausging, verharrte sie hinter einem Gebüsch und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sie war weggelaufen, ohne zu wissen, warum, doch nun wusste sie es. Sie hatte wieder Angst. Angst, in ihrem Inneren das Krack zu hören, das sie aus dem Gleichgewicht warf. Das Krack eines brechenden Fingers, der zerschnitten wurde wie ein verdorrter Zweig. Das Krack , das ihr in den Ohren geklungen hatte, als sie sich aus dem Fenster der Villa in Holmby Hills gestürzt hatte. Das unheimliche

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