Der Junge, der Träume schenkte
betrachtete seine pechschwarzen Augen und die blonde Locke, mit der der Wind spielte, und die hohen Wangenknochen, sein Gesicht, das noch markanter geworden war. Wie männlich er wirkt, dachte sie.
»Du siehst wunderschön aus«, sagte Christmas da.
Ruth spürte innerlich einen Riss, als hätten die Verbände, die sie nicht atmen ließen, sich endgültig gelöst, sodass ihre Lungen sich endlich weiten konnten. Und ein beinah schmerzhafter Stich fuhr ihr ins Herz. »Mir ... ist nicht gut ...«, wisperte sie.
Sie lehnte den Kopf an Christmas’ Schulter.
»Komm«, sagte er. Er legte seinen Arm um ihre Taille und war zutiefst ergriffen von der Berührung, die ihn so sehr an den Tag erinnerte, an dem er sie auf seinen Armen ins Krankenhaus getragen hatte. Das erste und einzige Mal, dass er sie berührt hatte. Er schaute sich um. Auf der anderen Straßenseite entdeckte er ein Café. »Komm«, sagte er abermals.
Ruth erstarrte kaum merklich, als Christmas ihre Taille umfasste. Doch es dauerte nur einen Moment. Während sie die Straße überquerten, gab sie sich seinem starken und sicheren Griff hin, denn, so dachte sie zu ihrem Erstaunen, sie brauchte ihn. Sie hatte ihn immer gebraucht. Ihr war nicht klar, warum sie gesagt hatte, ihr sei nicht gut. Vielleicht weil das Glücksgefühl, das ihr wie ein Stich ins Herz gefahren war, so neu, so ungewohnt für sie war. Da umschlang sie unter dem Vorwand, sich an ihm festhalten zu müssen, schüchtern seine Taille. Während sie auf das Café zugingen, entdeckte sie ihr gemeinsames Spiegelbild in der Fensterscheibe und fand, dass sie aussahen wie zwei ganz normale Jugendliche, die ihre Liebe offen zeigten. Ruth errötete, löste jedoch den Blick nicht vom Fenster und hörte weder den Lärm der Autos noch die Stimmen der Menschen um sie herum. Sie betrachtete sich zusammen mit Christmas in der Fensterscheibe, bis das Bild verschwamm und sie das Café betraten.
»Da drüben«, sagte sie und zeigte auf einen Ecktisch, dem gegenüber ein großer Spiegel hing. Nein, sie träumte nicht. Aus dem Augenwinkel konnte sie sich zusammen mit Christmas sehen.
»Geht es dir besser?«, fragte er sie.
Ruth antwortete ihm nicht. Sie sah ihn nur an. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und seine blonde Locke berührt, die langen Wimpern, die seine dunklen Augen schützten, seine Wangenknochen. Die Lippen, die sie vier Jahre zuvor hatte küssen wollen. Die war damals noch nicht da, dachte sie, als ihr Blick auf die Narbe an seiner Unterlippe fiel.
Christmas erwartete auch keine Antwort, womöglich hätte er sie gar nicht gehört. Weil er den Blick nicht von Ruths Augen lösen konnte. Weil er vergessen hatte, wie grün sie waren. Weil es nichts mehr zu fragen oder zu erklären gab. Weil alles, was vorher gewesen war – die Vergangenheit, die Grübeleien und die Sorgen –, wie die Sandzeichnung eines Kindes am Strand in Sekundenschnelle von der übermächtigen Macht der Meereswellen fortgespült wurde. Und sie beide waren dieses Meer. Ohne Ende und ohne Anfang.
»Ich habe über dich gelesen«, sagte Ruth.
»Ich mache eine Sendung, in der gesprochen wird«, sagte Christmas.
Ruth fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie dachte an den Tag zurück, an dem sie ihm das Radio geschenkt hatte, den Tag, an dem Christmas Opa Saul erklärt hatte, er werde einmal im Radio sprechen, um sie dann ohne jede Scham über den Tisch hinweg anzusehen und ihr mit seinen Augen zu sagen, dass er es für sie tun würde. »Die mag ich am liebsten«, sagte sie.
»Ich habe das Foto von Lon Chaney gesehen, das du gemacht hast«, sagte Christmas.
Ruth senkte den Blick. »Deine Briefe habe ich nie bekommen. Du meine auch nicht. Es war meine Mutter. Ich habe es erst vor Kurzem erfahren.«
Schweigend sah Christmas sie an. Natürlich. Es war die einzig mögliche Erklärung. Als hätte er es tief in seinem Inneren schon immer gewusst. »Ein wunderschönes Foto«, sagte er.
Ruth blickte auf und lachte. Dann fuhr sie zum Spiegel herum. Und sie sah, dass in ihren Augen noch immer Glanz war und Christmas mit ihr lachte. Wie auf ihrer Bank im Central Park.
Christmas hingegen wandte den Blick nicht von Ruth ab. Er nahm ihren nunmehr erblühten Busen wahr, der sich in ihrem lila Kleid hob und senkte. Und er wusste, ihre Füße waren unter dem Tisch den seinen ganz nah. Und er sah ihre Hand so dicht neben seiner liegen, dass es ihm fast so vorkam, als berührte er sie. Er betrachtete ihre roten, vollkommenen Lippen
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