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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Gegenteil, vorsichtiger werden lassen, weniger risikobereit.
    Und mehr als ein Mal fürchtete er, dass etwas in ihm verstummt war, dass sich zwischen ihm und der Welt eine Mauer aufgetürmt hatte.
    Seit CKC nicht mehr illegal war, hatten die Hörer New Yorks Christmas Hunderte von Briefen geschrieben, Briefe voller Komplimente, Zuneigung, Bewunderung. Frauen, die sich endlich verstanden fühlten, Männer, die davon träumten, endlich mutig zu sein, Jungen, die so werden wollten wie Christmas, Mädchen, die ihn treffen wollten und ihm ihre Liebe gestanden. Und während Karl ein Zusatzprogramm zu Diamond Dogs ins Leben gerufen hatte, in dem Auszüge aus diesen Briefen vorgelesen wurden, wurde Christmas sich der Bürde all dieser Aufmerksamkeit bewusst. Und er erstarrte in dem öffentlichen Bild, das die Welt von ihm zeichnete.
    Vielleicht war das mit ein Grund, weshalb er am ersten Tag nicht ein einziges Wort auf das leere Blatt in seiner Underwood schrieb. Am zweiten Tag raffte er sich auf und versuchte, den Enthusiasmus wiederzufinden, der ihn in Büro elf der MGM-Studios beflügelt hatte. Zaghaft tippte er die ersten Worte. Er versuchte, sie erklingen zu lassen, der Melodie der ersten Sätze zu lauschen, die im Theater die Stille durchbrachen. Doch sie kamen ihm dürftig vor, als fehlte ihnen noch etwas. Wenn er sie dann jedoch korrigierte, erschienen sie ihm überladen. Er fand kein Gleichgewicht. Die Ausgestaltung der Figuren, sie glaubwürdig miteinander in Interaktion treten zu lassen, erwies sich als weitaus komplizierter als der simple Entwurf, den er Mayer abgeliefert hatte.
    Am dritten Tag beschloss Christmas, sich kopfüber in die Arbeit zu stürzen, einzelne Szenen zu entwerfen und niederzuschreiben. Zusammenfügen würde er sie später. Ich werde das Knäuel schon entwirren, versicherte er sich selbst. Und so schloss er die Augen und ließ seiner Fantasie freien Lauf.
    Vor seinem inneren Auge sah er einen verrauchten Billardsaal. Und langsam tauchten ein paar finstere hemdsärmelige Gestalten auf, den Queue in der Hand und die Pistole im Holster. In einer Ecke standen Flaschen mit geschmuggeltem Whisky. Plötzlich warf sich ein Mann von außen gegen die Tür und eröffnete das Feuer auf die Gangster. Er tötete sie alle, einen nach dem anderen. Christmas hörte die Stille, die auf die Schüsse folgte, und das Gelächter des Killers, der einen großzügigen Schluck aus einer Whiskyflasche nahm, bevor er – mit einem erbarmungslosen Grinsen im Gesicht – den Alkohol über den blutüberströmten Leichen ausgoss. Anschließend ging der Mann hinüber zur Tür, die noch offen stand, und zündete ein Streichholz an. Kurz hielt er es in die Luft, grinste böse und warf es dann in die Alkohollache, die den Billardsaal in Brand setzen würde. Licht aus. Szenenwechsel.
    Christmas schlug die Augen auf und begann, aufgeregt zu tippen. Die Szene schrie nach Beifall, fand er. Licht aus, Beifall. Tief über seine Underwood gebeugt, schrieb er voller Eifer. Als er mit der Szene fertig war, riss er das Blatt aus der Maschine und legte es neben der Schreibmaschine ab. Sogleich spannte er ein neues Blatt ein und schloss wieder die Augen.
    Vor sich sah er ein Haus in der Lower East Side und eine Frau, die mit dem Rücken an ein zerschlissenes Sofa gelehnt am Boden saß und weinte, in der Hand ein Foto, das sich unter ihren Tränen auflöste. Die Frau versuchte, das Foto an ihrem Kleid, über ihrem Herzen, zu trocknen. Die Frau war jung und schön. Dann klopfte es an der Tür, und ein Mann kam herein. Man konnte sein Gesicht nicht erkennen, es lag im Halbdunkel. Reglos stand er da und betrachtete die Frau, die verzweifelt weinte. Schließlich hob sie den Blick und sah ihn an. »Sie haben ihn getötet«, schluchzte sie. »Sie haben meinen Sonny im Billardsaal getötet.« Da trat der Mann aus dem Dunkel hervor, ging zu ihr, zog sie hoch und nahm sie in den Arm. Und jeder im Publikum erkannte ihn wieder. Es war der Killer. »Ich werde das Schwein finden, das ihn umgebracht hat«, versicherte er der Frau, und er streichelte ihr über das Haar. Licht aus. Beifall.
    Erneut begann Christmas zu tippen und beschrieb in allen Einzelheiten die Wohnung und das Gesicht der Frau. Und erst als er nur noch wenige Sätze zu schreiben hatte, hob er den Blick von der Maschine und stellte fest, dass er, seitdem er sich zum Schreiben entschlossen hatte, nicht ein einziges Mal zum Fenster hinaus auf die Bank im Park geschaut hatte. Und er fühlte

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