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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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sein betrunkener Vater mit dem Gürtel um die Faust näherte, um ihn zu verprügeln. Wenn er von zu Hause weggelaufen war, weil er wusste, dass seine Mutter, die Jüdin, ihn nicht in Schutz nehmen würde. Weil alle Frauen Schlampen waren. Und Jüdinnen waren die schlimmsten.
    »Wie viel gibst du mir für die silberne Fassung hier?«, fragte Bill den alten Juden.
    Der kleine Laden hatte wie immer bis spät in den Abend hinein geöffnet. Bill grinste abfällig. Juden waren widerliche Schweine. Für Geld würden sie alles tun. Diese Leute hatten kein Herz.
    Der Alte nahm seine Lupe und begutachtete die Fassung von allen Seiten. Dann blickte er auf den Jungen. »Was soll so eine Fassung schon wert sein?«, sagte er schulterzuckend. »Zwei Dollar.«
    »Zwei Dollar, mehr nicht?«
    »Da lässt sich kein anderer Stein einsetzen, nur das Original. Man muss sie komplett einschmelzen und eine neue Fassung für einen anderen Stein fertigen. Der Aufwand ist viel zu groß. Da bleibt ja kein Verdienst«, erklärte der Alte.
    Juden. So waren sie alle. Bill wusste das genau. Und der Alte war noch schlimmer als die anderen. Auch das wusste Bill genau. Aber außer ihm kannte er keinen, der ihm den Ring abkaufen würde. Zumindest keinen, der um die Zeit noch geöffnet hatte. Und für ihn galt es, das Bestmögliche herauszuschlagen und dann schleunigst zu verschwinden. Er tastete nach der Tüte mit den Edelsteinen in seiner Tasche. Nein, das konnte er nicht tun. Der alte Jude würde ihn für einen Dieb halten und die Polizei rufen.
    »Ich will mindestens fünf. Die Fassung ist aus Silber.«
    In den Augen des Juden funkelte es spöttisch. »Drei.«
    »Vier«, forderte Bill.
    Der Alte zählte vier Scheine ab und schob sie durch die Öffnung im Schutzgitter. Dann nahm er die Fassung an sich.
    Regungslos sah Bill ihn an.
    »Ist noch was?«, fragte der Jude.
    Bill blickte geradewegs in die Augen des alten Mannes, den er schon so viele Male beobachtet hatte, als kleines Kind gemeinsam mit seiner Mutter und später, als er größer war, alleine. Er starrte den geizigen, herzlosen alten Juden an, der seine Tochter aus dem Haus geworfen hatte, als sie sich in einen deutschen Fischverkäufer verliebt hatte. Den widerwärtigen Juden, der alle Spiegel im Haus verdeckt und das Kaddish , das Totengebet, gesprochen hatte, weil seine Tochter für ihn gestorben war und er sie nie wieder sehen wollte. Und der seinen Enkel nie hatte kennenlernen wollen.
    Bill sah seinen Großvater an. »Scheißjude!« Bill lachte auf seine unbekümmerte Art. Danach drehte er sich um und ging.
    Der Alte zuckte mit keiner Wimper. »Martha«, sagte er dann, nach hinten gewandt. »Stell dir vor, ein Idiot hat mir gerade für vier Dollar eine Ringfassung verkauft, die mindestens fünfzig wert ist. Eine Fassung aus Platin. Und dieser Idiot hat geglaubt, es wäre Silber.« Ja, der Junge war wie all diese Amerikaner ein Vollidiot. Solchen Jungs waren die Juden verhasst, weil sie ihnen an Klugheit überlegen waren. So zumindest hatte der alte Mann es sich immer erklärt, und er lachte, auf seine unbekümmerte, fröhliche, so besondere Art, mit der er fünfzig Jahre zuvor das Herz seiner angebeteten Ehefrau erobert hatte. Es war das gleiche fröhliche und unbekümmerte Lachen, mit dem er drei Jahre später die Nachricht aufgenommen hatte, dass seine Frau ein wundervolles Mädchen zur Welt gebracht hatte. Bills Mutter.

14
    Manhattan, 1922
    In kurzer Zeit hatte das Ereignis die Runde gemacht. Und sich immer mehr aufgebläht. Nun erzählte man sich bereits, Christmas sei aus dem Wagen eines bekannten jüdischen Gangsters gestiegen, eines der ganz Großen. Manch einer machte sogar leise Andeutungen. Manch anderer ging noch weiter und schloss, noch leiser, aus den Andeutungen, der Wagen gehöre Louis Lepke Buchalter oder gar Arnold Rothstein. Und innerhalb von zwei Tagen war man sich überall in der Lower East Side sicher, Christmas habe vor dem Hauseingang in der Monroe Street nicht einen Fünfzig-Dollar-Schein, sondern ein ganzes Bündel Geldscheine aus der Tasche gezogen. »Mehr als tausend Dollar«, schworen viele. Und fügten noch hinzu, im Hosenbund des Jungen habe ein Colt mit einem Griff aus Elfenbein gesteckt.
    »He, das neulich war nur Spaß ...«
    Gleichgültig sah Christmas die Jungen an. Er trug Hose, Hemd und Anzugjacke, alles nagelneu. Und ein Paar Schuhe aus glänzendem Leder in seiner Größe. Ohne einen Cent dafür bezahlt zu haben. Als Christmas Moses Strauss’ Laden

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