Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
und eine dunkelbraune Krawatte. Für den Anlass hatte er ein Paar neue Schuhe bekommen und war sehr stolz darauf, auch wenn sie ihm zu klein waren und drückten, was ihm das Gehen erschwerte. Eigentlich waren die vielen Vorbereitungen und guten Kleider ein bisschen zu aufwendig, denn Bruno und Gretel durften nicht einmal mit am Tisch sitzen; sie hatten schon eine Stunde vorher gegessen.
»Also, Kinder«, sagte Vater, der hinter seinem Schreibtisch saß und von seinem Sohn zu seiner Tochter und wieder zurück blickte. »Ihr wisst, dass heute ein ganz besonderer Abend vor uns liegt, nicht wahr?«
Sie nickten.
»Und dass es sehr wichtig für meine Karriere ist, dass der Abend gut läuft.«
Sie nickten wieder.
»Ich möchte deshalb ein paar Grundregeln festlegen, bevor es losgeht.« Vater hielt sehr viel von Grundregeln. Sobald es einen besonderen oder wichtigen Anlass im Haus gab, dachte er sich neue aus.
»Nummer eins«, sagte Vater. »Wenn der Furor ankommt, steht ihr still im Flur und haltet euch bereit, ihn zu begrüßen. Ihr sagt erst etwas, wenn er euch anspricht, und dann antwortet ihr in klarem Ton und sprecht jedes Wort deutlich aus. Habt ihr das verstanden?«
»Ja, Vater«, nuschelte Bruno.
»Genau das wollen wir nicht«, sagte Vater und meinte Brunos Nuscheln. »Mach den Mund auf und sprich wie ein Erwachsener. Was wir wirklich nicht brauchen ist, dass ihr beide euch wie Kinder aufführt. Wenn der Furor euch ignoriert, dann sagt ihr auch nichts, sondern schaut geradeaus und erweist ihm den Respekt und die Höflichkeit, die ein so großer Mann verdient.«
»Natürlich, Vater«, sagte Gretel mit sehr klarer Stimme.
»Und wenn Mutter und ich mit ihm am Tisch sitzen, bleibt ihr beide ganz ruhig in euren Zimmern. Es wird nicht herumgerannt, nicht das Geländer heruntergerutscht« – an dieser Stelle sah er ganz gezielt Bruno an – »und ihr werdet uns nicht stören. Ist das klar? Ich möchte, dass keiner von euch Unruhe stiftet.«
Als Bruno und Gretel nickten, stand Vater auf, um ihnen zu zeigen, dass die Unterredung beendet war.
»Damit sind die Grundregeln festgelegt«, sagte er.
Eine Dreiviertelstunde später klingelte es, und im Haus brach helle Aufregung aus. Bruno und Gretel stellten sich Seite an Seite an die Treppe, Mutter wartete neben ihnen und rieb sich nervös die Hände. Vater sah sie alle kurz an und nickte, offenbar zufrieden mit dem Anblick, dann öffnete er die Tür.
Draußen standen zwei Leute: ein ziemlich kleiner Mann und eine größere Frau.
Vater salutierte vor ihnen und geleitete sie ins Innere, wo Maria, die den Kopf noch tiefer neigte als sonst, ihnen die Mäntel abnahm und alle vorgestellt wurden. Zuerst sprachen sie Mutter an, was Bruno die Gelegenheit bot, die Gäste zu begutachten und sich selbst ein Urteil zu bilden, ob sie das ganze Theater, das ihretwegen veranstaltet wurde, auch wirklich wert waren.
Der Furor war viel kleiner als Vater und, wie Bruno annahm, längst nicht so stark. Er hatte dunkles, ziemlich kurz geschnittenes Haar und einen kleinen Schnurrbart – so klein, dass Bruno sich fragte, warum er ihn überhaupt stehen ließ oder ob er beim Rasieren nur ein Stück vergessen hatte. Die Frau an seiner Seite aber war so ziemlich die schönste Frau, die er jemals im Leben gesehen hatte. Sie hatte blondes Haar und knallrote Lippen, und während der Furor sich mit Mutter unterhielt, drehte sie sich um und sah Bruno lächelnd an, was ihn vor Verlegenheit rot werden ließ.
»Und das sind meine Kinder, Furor«, sagte Vater, worauf Gretel und Bruno einen Schritt vortraten. »Gretel und Bruno.«
»Und wer ist wer?«, fragte der Furor, was alle zum Lachen brachte, nur Bruno nicht, für den klar auf der Hand lag, wer wer war, und der darin wirklich keinen Witz sah. Der Furor gab jedem die Hand, und Gretel machte einen vorsichtigen, einstudierten Knicks. Bruno war entzückt, als der Knicks misslang und sie beinahe hinfiel.
»Was für bezaubernde Kinder«, sagte die schöne blonde Frau. »Wie alt sind sie, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin zwölf, aber er ist erst neun«, sagte Gretel und schaute ihren Bruder verächtlich an. »Ich kann auch Französisch sprechen«, fügte sie hinzu, was nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn sie hatte nur ein paar Wendungen in der Schule gelernt.
»Ja, aber wozu soll das gut sein?«, fragte der Furor. Diesmal lachte niemand, vielmehr traten alle beklommen von einem Fuß auf den anderen und Gretel starrte ihn an, unsicher, ob er
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