Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
eine Antwort wollte oder nicht.
Die angespannte Lage löste sich jedoch schnell, weil der Furor, der in Brunos Augen der unhöflichste Gast war, den er je erlebt hatte, sich umdrehte, schnurstracks ins Esszimmer marschierte und sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen, einfach ans obere Ende des Tisches setzte – auf Vaters Platz! Leicht nervös gingen Mutter und Vater hinter ihm her, und Mutter wies Lars an, die Suppe warm zu machen.
»Ich spreche auch Französisch«, sagte die schöne blonde Frau, beugte sich nach unten und lächelte den beiden Kindern zu. Allem Anschein hatte sie nicht so große Angst vor dem Furor wie Vater und Mutter. »Französisch ist eine wunderschöne Sprache, und es ist sehr klug von dir, sie zu lernen.«
»Eva«, rief der Furor aus dem anderen Zimmer und schnippte mit den Fingern, als wäre sie irgendein Schoßhündchen. Die Frau verdrehte die Augen, richtete sich langsam auf und drehte sich um.
»Deine Schuhe gefallen mir, Bruno, aber sie sehen ein bisschen eng aus«, sagte sie lächelnd. »Wenn sie kneifen, solltest du es deiner Mutter sagen, sonst kriegst du womöglich Blasen.«
»Sie kneifen ein klein wenig«, gab Bruno zu.
»Normalerweise trage ich keine Locken«, sagte Gretel, die ihrem Bruder die Aufmerksamkeit neidete.
»Aber warum denn nicht?«, fragte die Frau. »So sieht es doch hübsch aus.«
»Eva!«, brüllte der Furor zum zweiten Mal, und jetzt entfernte sie sich von ihnen.
»War nett, euch beide kennenzulernen«, sagte sie, bevor sie ins Esszimmer ging und sich zur Linken des Furors setzte. Gretel lief zur Treppe, aber Bruno blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete die blonde Frau, bis sie seinen Blick auffing und ihm zuwinkte, gerade als Vater erschien und die Tür mit einem knappen Kopfnicken schloss – das Zeichen für Bruno, auf sein Zimmer zu gehen, sich still hinzusetzen, keinen Lärm zu machen und schon gar nicht das Geländer herunterzurutschen.
Der Furor und Eva blieben fast zwei Stunden, aber Gretel und Bruno wurden nicht nach unten gebeten, um sich von ihnen zu verabschieden. Bruno sah sie von seinem Zimmerfenster aus weggehen. Vor ihrem Auto, das sogar einen Chauffeur hatte, hielt der Furor seiner Gefährtin nicht einmal die Tür auf, sondern stieg ein und griff sofort nach der Zeitung, während sie sich noch einmal von Mutter verabschiedete und ihr für das nette Essen dankte.
Was für ein furchtbarer Mann, dachte Bruno.
Später am Abend hörte Bruno Teile von Mutter und Vaters Unterhaltung mit. Einige Sätze drangen durch das Schlüsselloch oder unter der Tür von Vaters Büro die Treppe hinauf, um das Geländer herum und unter Brunos Zimmertür hindurch. Ihre Stimmen waren ungewöhnlich laut, aber Bruno konnte nur Bruchstücke verstehen:
»... Berlin zu verlassen. Und wegen so einem Ort ...«, sagte Mutter.
»... keine Wahl, zumindest nicht, wenn wir weiterhin ...«, sagte Vater.
»... als wäre es das Natürlichste der Welt, aber das ist es nicht, wirklich nicht ...«, sagte Mutter.
»... dann würde man mich abziehen und behandeln wie einen ...«, sagte Vater.
»... erwarten, dass sie an so einem Ort aufwachsen ...«, sagte Mutter.
»... und damit ist die Sache beendet. Kein Wort mehr zu dem Thema ...«, sagte Vater.
Vermutlich war dies das Ende der Unterhaltung, denn danach verließ Mutter Vaters Büro, und Bruno schlief ein.
Ein paar Tage später kam er von der Schule nach Hause und sah, dass Maria in seinem Zimmer stand, alle seine Sachen aus dem Schrank holte und sie in vier große Holzkisten packte, auch die ganz hinten versteckten, die nur ihm gehörten und keinen etwas angingen. Und damit fing die Geschichte an.
Kapitel zwölf
Schmuel überlegt sich eine Antwort auf Brunos Frage
»Ich weiß nur so viel«, sagte Schmuel. »Bevor wir hierherkamen, lebte ich mit meinen Eltern und meinem Bruder Josef in einer kleinen Wohnung über der Werkstatt, in der Papa seine Uhren macht. Jeden Morgen haben wir zusammen um sieben gefrühstückt, und während wir in der Schule waren, hat Papa die kaputten Uhren von Kunden repariert oder neue gemacht. Ich hatte eine wunderschöne Armbanduhr von ihm, aber jetzt ist sie weg. Sie hatte ein goldenes Zifferblatt, und ich zog sie jeden Abend vor dem Schlafengehen auf. Sie ging nie falsch.«
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Bruno.
»Sie haben sie mir weggenommen«, sagte Schmuel.
»Wer?«
»Die Soldaten natürlich«, sagte Schmuel, als wäre es die selbstverständlichste Sache der
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