Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
Vom Netzwerk:
entlang trottete, ich lachte manchmal minutenlang. Ein Wahnsinniger. Ich fühlte mich wie ein gut abgerichteter Hund, der plötzlich merkt, dass er diesen letzten neuen Trick einfach nicht mehr lernen kann. Himmel, ich war so müde: Ich kann mich daran erinnern, wie ich meine Beine buchstäblich mit der linken Hand auf die Stufen hob, eins nach dem anderen, als wären sie Baumstämme, klobige Stümpfe, und mich mit der rechten Hand am Geländer hochzog, um genug Hebelwirkung zu erzielen. Ich kann mich daran erinnern, wie ich dachte: Viel mehr davon schaffe ich nicht mehr. Damals war ich vierundvierzig Jahre alt.
    Eines Abends war ich so erschöpft, dass ich mit Walker in den Armen die Treppe herunterfiel: Meine Hacke blieb an der Kante einer Stufe hängen, ich fiel hintenüber, das vertraute Angstgefühl, das in mir hochschoss, raubte mir den Atem, der Gedanke Walker , der mir durch den ganzen Körper zuckte, woraufhin ich meine Arme um ihn schloss und aus mir eine Art Schlitten machte, und so rasten wir hinunter, Walkie auf einer Brust, bis wir am Fuß der Treppe aufschlugen. Er lachte. Fand es toll. Und so tat ich es auch. Er führte mich in die Dunkelheit, aber ebenso oft war er auch der Weg, der mich wieder hinausführte.
    Nach dreieinhalb Tagen hatte sich L’Arche allmählich ganz normal angefühlt. Das alltägliche Leben dort besaß einen natürlichen Rhythmus und wirkte wohl geordnet, so unkonventionell es auch schien. Ich hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken.
    Ich war nach Frankreich gereist, weil ich sehen wollte, ob es eine würdevolle, sinnvolle Art des Lebens für Walker auf dieser Welt gäbe – um selbst zu sehen, ob es möglich war, ihm nicht bloß ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, wenn ich einmal nicht mehr da sein würde, nicht bloß eine ad hoc-Lösung für seine Versorgung, sondern eine Gemeinschaft und eine Familie, die er sein eigen nennen könnte, ja sogar – das war der radikalste Gedanke – eine Freiheit, äußere und innere, die er für sich reklamieren könnte.
    Und wenn solch eine Gemeinschaft möglich war, wie konnte man die Kosten dafür rechtfertigen? Historisch gesehen reichte Mitgefühl als Begründung nicht aus. Konnten die Schaffung und der Unterhalt einer solchen Gemeinschaft auch für den Rest von uns, die Nicht-Behinderten, einen dauerhaften, konkreten Nutzen bringen? Ich wollte wissen, ob Walkers Leben einen solchen Wert besaß. Mir kam das so vor. Vanier sagte es auch.
    Gilles Le Cardinal war noch einen Schritt weitergegangen. Er hatte den Beweis dafür.
    Le Cardinal ist emeritierter Professor für Kommunikations- und Informationswissenschaften an der Technischen Hochschule von Compiègne und Autor mehrerer viel beachteter Management-Bücher in Frankreich. Aber er begann seine berufliche Karriere als Software-Ingenieur im Bereich Künstliche Intelligenz und entwarf zum eigenen Handeln befähigende Roboterprogramme für die Ölindustrie. Jeden Mittwoch begleitete er seine Frau zum Mittagessen in einem der L’Arche- Foyers in Compiègne, wo sie arbeitete.
    »Ich war unfähig als Assistent«, erzählte mir Le Cardinal eines Abends bei einem Essen in seinem Haus, »aber ich war ein guter Zuhörer. Die offenkundige Mühelosigkeit der L’Arche-Gemeinschaft beeindruckte Le Cardinal – die Art, wie sie die Bedürfnisse einer in sich sehr heterogenen Gruppe von Menschen mit einem großen Spektrum von Fähigkeiten zu befriedigen vermochte. Le Cardinal glaubt, dass alles, was er seitdem als Schriftsteller und Systemanalytiker geleistet hat, zurück reicht zu »Dingen, die ich bei L’Arche gelernt habe.«
    Wie man es von jemandem erwarten kann, dessen Job es ist, einen komplexen Prozess in Einzelteile herunterzubrechen und dann eine Maschine zu trainieren, damit sie diese Handlungen reproduzieren kann, begann Le Cardinal L’Arche zu analysieren. Er machte eine Liste aller »Anteilseigner« eines Foyers – den Bewohnern, Assistenten, Geschäftsführern und Eltern, die einen Einfluss auf die Lebensqualität und einen Anteil beim Resultat hatten. Dann teilte er ihre Bedürfnisse und Einsätze in unterschiedliche Standpunkte oder Interessenlagen ein und unterteilte sie durch Überschneidungen zwischen solchen Standpunkten. Er glich dieses Verständnisschema mit dem ab, was er von jedermanns Hoffnungen, Ängsten, Erwartungen und der Versuchung, das System zu unterwandern, ausmachen konnte.
    Le Cardinals Ergebnisse überraschten ihn selbst. L’Arche produzierte eine kollektive

Weitere Kostenlose Bücher