Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Intelligenz, die größer war als die Summe seiner Einzelteile, die Interaktionen zwischen den Nicht-Behinderten und den Behinderten produzierten Standpunkte, die komplexer waren, als jede Gruppe für sich genommen kommunizierte. Wenn ich auf meinen eigenen Aufenthalt in La Semence zurückblickte, konnte ich bestätigen, dass diese Dynamik in Gang gewesen war: Gégé schien mehr oder weniger empfindungslos und stumpf zu sein, bis ich entdeckte, wie er über Garrys Vorstellungen lachte, und seine Reaktion begeisterte wiederum eindeutig Garry und trieb ihn an, noch mehr zu unternehmen, um die Bewohner zu erreichen. Als ich auf Françine in ihrem Rollstuhl stieß und sie meinen Arm packte und mein Gesicht nahe an ihrs zog, reagierte ich mit einer Umarmung und einem Kuss, und erfuhr, dass Françine Männer mochte. Ich hatte angenommen, dass Françine keine Bedürfnisse hatte, und ich wurde eines anderen belehrt. Ich konnte sie mit schlichter Zuneigung zufriedenstellen. Françine entdeckte, dass sie Trost bekommen konnte, wenn sie ihn brauchte. Nur indem wir einander in diesem Moment auf Augenhöhe begegneten, machten wir diese Entdeckungen.
»Was ich faszinierend fand, war das Paradigma der Komplexität«, sagte Le Cardinal zu mir. »Ich bin sicher, dass Geist, vorwärtstreibender Geist, Teil der Komplexität ist – es ist eine neue, ungeplante Qualität, die aus der Komplexität kommt. Die Intelligenz des Systems liegt nicht in den Neuronen. Sie liegt in der Komplexität selbst, in dem Prozess, durch den die Menschen interagieren. Ähnlich produziert eine Gemeinschaft bei L’Arche neue Eigenschaften. Und eine dieser neuen Eigenschaften ist dieser totale Respekt zwischen der brillantesten Person und der am meisten behinderten.«
»Kann man bei einem behinderten Geist wirklich Komplexität erwarten?«, fragte ich. »Das kommt mir an sich widersprüchlich vor.«
»Das kann man, wenn man eine Gemeinschaft hat«, antwortete Le Cardinal. Er griff nach einem Stück Fladenbrot und schnitt mit dem Messer etwas Butter ab. »Wenn Sie die Butter verstreichen wollen, bricht es.« Er demonstrierte es, und das Fladenbrot zerbrach wie aufs Stichwort. »Aber wenn man zwei Cracker benutzt, die sich gegenseitig verstärken, zerbrechen sie nicht. Ich habe den Unterschied zwischen Schwäche und Fragilität entdeckt. Das Gegenteil von Schwäche ist Macht. Das Gegenteil von Fragilität ist Stärke. Schwäche ist nicht das Thema bei den Behinderten – sie sind alles andere als schwach. Fragilität ist eine andere Frage, aber eine, die durch Kooperation gelöst werden kann.«
Le Cardinal begriff, dass er eine radikal neue Theorie des Managements zur Verfügung hatte – eine, die seitdem die Basis für mehrere populäre Bücher gebildet hat. In Die Dynamik des Vertrauens wendet Le Cardinal die Lektionen, die er im Kreis einiger Behinderter gelernt hat, an, um darüber zu reflektieren, warum einige Leute mehr Vertrauen haben als andere und wie Vertrauen generiert werden kann. Das Buch hat dazu beigetragen, das wissenschaftliche Studium von Vertrauen zu etablieren. Einer der führenden Köpfe dieser neuen Disziplin ist Daniel Seligman, ein kalifornischer Psychologe, der in den 1970ern mit seiner Studie über erlernte Hilflosigkeit bekannt geworden war.
»Dies war absolut neu, was wir da lernten«, sagte Le Cardinal. »Die Behinderten sagen immer: › Kann ich dir so viel vertrauen, wie ich es nötig habe? ‹ Das ist ihre zentrale Frage. Sobald die Vertrauensfrage geklärt ist, wird es leichter, die Welt der Behinderten zu betreten und herauszufinden, was sie lernen und leisten können.«
Le Cardinal hat seither seine von L’Arche inspirierten Entdeckungen über Risikoeinschätzung und Vertrauensbildung in der Gruppe – seine Beobachtung, dass Vertrauen und Lernen der gegenseitigen Anerkennung gegenseitiger Abhängigkeit entspringen – auf andere Probleme angewendet. Er hat sechs Jahre lang in Weißrussland gearbeitet, wo er gebeten worden war, den schnellsten und effektivsten Weg zu finden, wie er den Frauen in der Gegend um Tschernobyl beibringen konnte, ihren Familien keine radioaktive Milch mehr vorzusetzen. Es war schwieriger, als es sich anhört: Wie hält man Leute davon ab, sich an einem Grundnahrungsmittel gütlich zu tun – noch dazu eines, dass sie auf ihren eigenen Bauernhöfen kostenlos produzieren – weil vor dreißig Jahre eine Katastrophe geschehen ist? Die weißrussische Regierung hatte versucht, das Milchtrinken zu
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