Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
gefallenen Kindern.
Krista Lee war ein hübsches Mädchen im Rollstuhl. Aber ihr Verstand war nicht sehr stabil. Walker liebte sie trotz alledem. »Manchmal stand er auf und benutzte den automatischen Hebel an ihrem Rollstuhl und schickte sie auf die Reise«, sagte Trish. »Und Krista Lee sagte dauernd: › Walker! Was machst du denn da? ‹ Das liebte er.« Ich habe keinen Zweifel. Als er für das Haus zu alt wurde und in die zweite Gruppe zog, ein paar Kilometer weiter, hielten die Mitarbeiter die Nachricht bis zur letzten Minute vor Krista Lee geheim.
All diese Fremden waren nun ein Teil von Walkers Leben, zu dem jeder von ihnen seine Lebensgeschichte beisteuerte. Trish wohnte mit ihrem Mann und ihrer Tochter im Nordosten der Stadt, in einer Vorstadt namens Ajax, einer Stadt, die im Schatten einer Munitionsfabrik während des Zweiten Weltkriegs wie Moos gesprossen war. Jetzt war es eine sich weit erstreckende Fläche aus Bungalows und Häusern mit Zwischengeschossen und Einkaufszentren und Kirchen, die ihre Gottesdienste und Predigten auf Werbetafeln am Straßenrand ankündigten ( AUS VERBOTENEN FRÜCHTEN WERDEN VIELE MARMELADEN GEKOCHT ). Es war ein Stadtteil, wo man verheiratete Frauen sah, die mit Zigaretten in den Mundwinkeln den Müll raustrugen, und Jungs mit Helmen und Hockeyschlägern, die auf ihren Skateboards nach Hause fuhren, und wo die Kreuzungen so groß waren wie Baseball-Felder.
Trish war mit einem dünnen, drahtigen, älteren Mann namens Cory verheiratet. »Er macht Bouillon-Würfel«, sagte sie mir eines Abends. Ich muss zugeben, dass ich überrascht war: Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass ein einzelner Mensch Bouillon-Würfel macht, obwohl natürlich irgendjemand die machen muss, und einer davon eben Trishs Ehemann ist. Er war selbstständig und arbeitete immer bis spät. Er hatte damit angefangen, dass er Bratensoße machte, die er an Imbisswagen verkaufte, von dort war er zu Suppen und Soßen und Gewürzen übergegangen. Ich hatte viel Zeit für diese Bouillongeschichten.
Trish und Cory hatten ein kleines Mädchen, Hailey – sie hatten ihr diesen Namen gegeben, nachdem Trish unsere Tochter Hayley kennen gelernt und ihren Namen so schön gefunden hatte – und sie kannten sich aus mit dem Kauf alter Häuser und Cottages, die sie renovierten und weiterverkauften, etwas, das sie schon zwei Mal und zwar mit einigem Erfolg gemacht hatten. Trish wollte kein zweites Kind, bis sie näher an Corys Geschäftsräumen wohnen konnten, sodass er mehr zu Hause sein konnte. »Gott sei Dank. Mit Walker habe ich das Gefühl, ich habe zwei.« Als sie das sagte, war ich schockiert gewesen. Sie betrachtete Walker wie ihr eigenes Kind, zumindest einen Teil der Zeit.
Trish war in Grand Falls, Newfoundland, aufgewachsen, wo ihr Vater in den Minen vor Ort und in der Papierfabrik arbeitete. Sie war eine große, direkte, praktische Person mit einem hübschen Gesicht und einem dominanten Kinn, extrovertiert und nicht schüchtern. Sie hatte zum ersten Mal auf jemanden mit einer Behinderung aufgepasst, ein Mädchen mit Zerebralparese, als sie sechzehn gewesen war. Trish unterrichtete in der Sonntagsschule und sprach offen von ihrem Glauben an Gott – noch eine Erfahrung, die Walker vielleicht nicht gehabt hätte, wenn er gänzlich dem Aufwachsen in einem strikt säkularen Haushalt überlassen geblieben wäre. Sie hatte einen Abschluss in frühkindlicher Pädagogik, aber die Spezialisierung war für ihren Geschmack zu akademisch: Sie zog die unordentliche Lebendigkeit der Kinder selbst vor, die Bodenständigkeit ihrer Bedürfnisse. Sie mochte die praktischen Herausforderungen, mochte es, ihre Probleme zu lösen. Sie war von der Organisation, die Walkers Wohngruppe betrieb, speziell dazu angestellt worden, um auf Walker aufzupassen, und sie war stolz darauf, dass sie mit dem Jungen so gut zurechtkam, bei dem jeder zugeben musste, dass er eine harte Nuss war. Sie arbeitete nachts, in Zweiundsiebzig-Stunden-Schichten, drei Nächte die eine Woche, vier die nächste. Es wirkte wie ein mörderisches Programm, aber Trish fand es gut, so konnte sie mit ihrer Tochter vor und nach dem Kindergarten zusammen sein, und sie hatte eine Krankenversicherung und Sozialleistungen. Ich dachte an sie immer mehr wie an eine Schwester, bis auf den Ausschnitt.
Walker liebte Trish fast so intensiv, wie er Olga liebte. Olga war Walkers zweite Mutter und Vater: Er tat alles für sie, ging für sie überallhin. Olga konnte Walker dazu
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