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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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Walkers – ein einziger Alptraum.
    Wieder eine Anwältin. Die Frau wird zu uns nach Hause kommen, sich über Walker informieren, sich anschauen, wie wir so sind und was wir für ein Leben führen. Wenn unsere »Not« – das Wort erscheint in meinen Gedanken immer in Anführungsstrichen – groß genug ist, wird sie versuchen, uns dabei zu helfen, die Nische in der Welt der Behindertenversorgung zu finden, in der Walker leben und existieren kann. Aber meine Hoffnungen sind nicht sehr groß.
    4. April 2004
    Wir haben jetzt eine Vertreterin für Walkers Sache. Sie heißt Margie Niedzwiecki. »Wir beginnen mit Bewerbungen für eine Langzeit-Versorgung«, sagte sie bei unserem ersten Treffen, kurz vor Weihnachten letztes Jahr. Ich habe wohl geschockt ausgesehen. »Sie müssen diese Entscheidung nicht jetzt treffen«, fügte sie schnell hinzu. »Denken Sie darüber nach.«
    Jeder Antrag dieser Art braucht ohnehin Jahre. Zu meiner Überraschung führt die Tatsache, dass Walker gleichzeitig laufen kann und vollständig von Hilfe abhängig ist, dazu, dass sein Fall besonders kompliziert ist. Es gibt Heime für gesundheitlich gefährdete Kinder, aber Walker könnte herumlaufen und ihre Beatmungsgeräte abschalten, nur weil es ihm Spaß machen könnte, auf die Knöpfe zu drücken. Dann gibt es Heime für geistig zurück gebliebene Kinder, aber sie kommen mit Walkers Verletzlichkeit nicht zurecht, der Tatsache, dass er trotz seines Alters immer noch ein so kleiner Junge ist.
    Der Mangel an Plätzen ist chronisch. Jeden Monat suchen allein in Toronto 2400 behinderte Menschen nach einem Unterbringungsplatz unter den sechsundsiebzig Häusern mit Wohngruppen. Manche warten acht Jahre lang. Die Zahlen ändern sich kaum.
    Unsere größte Chance, sagt Margie, ist, Hilfe von einer neuen Abteilung eines etablierten Sozialverbands zu bekommen, die sich auf Kinder spezialisiert hat, die besonders »ungewöhnlicher und komplexer Hilfe« bedürfen.
    Die Vorstellung, dass Walker irgendwo anders leben könnte, macht mich krank, aber inzwischen sind meine Schuldgefühle schierer Luxus. Wir müssen handeln. Er kann nicht einmal eine Minute allein sein, vierundzwanzig Stunden am Tag. Irgendwann wird er ausziehen müssen. Margie sagt, es sei eine gute Idee, frühzeitig mit dieser Veränderung zu beginnen. Mit achtzehn wird es zu schwer.
    Der erste Besuch findet in unserem Wohnzimmer statt. Margie ist älter als wir, vielleicht Anfang Sechzig, und groß gewachsen, mit schulterlangem grauen Haar. Sie ist extrem ruhig und hört zehn Mal so lange zu, wie sie selbst spricht. Sie spricht keinen Pflege-Jargon, wofür sie bei mir sofort einen Stein im Brett hat. Selbst Johanna erklärt sich dazu bereit, sich hinzusetzen und über eine langfristige Pflegeeinrichtung zu reden – eine Überraschung.
    »Walker reagiert auf Liebe«, sagte Johanna zu Margie. »Wir wollen, dass er irgendwo hinkommt, wo man ihn ganz liebt und nicht nur Teile von ihm.«
    Aber eigentlich meint sie das gar nicht. Wie ich möchte sie überhaupt nicht, dass er irgendwo anders hinkommt.
    Mein Vater und Walker haben etwas, etwas Erklärbares, Einzigartiges, das sie miteinander verbindet. Der alte Mann ist in seinen Neunzigern. Er geht immer noch zur Arbeit, macht immer noch jeden Morgen fünfzehn Minuten lang Gymnastik, aber er spürt seine Schwäche und hasst dieses Gefühl. Er hat im Alter von dreiundneunzig Jahren aufgehört, Auto zu fahren, weil er sich den Nacken verletzt hatte, und glaubt immer noch, dass er wieder fahren wird. Dazu wird es nicht mehr kommen, aber der Wagen ist sein großer Gleichmacher: Er kann nicht mehr so schnell laufen wie manche anderen Leute, aber im Auto ist er immer noch der alte. Er heißt Peter, seinen Zweitnamen Henry hat auch Walker als Zweitnamen.
    An den Wochenenden fahre ich zu meinen Eltern, um ihnen zu helfen. Sie leben allein in einem kleinen Haus an einem Fluss, den letzten Resten von Landleben an den Rändern eines alles fressenden Vorortes. Er braucht mich und meinen Wagen für seine Besorgungen. Der Friseur, der Getränkeladen, verschiedene Wertstoffhöfe, das Lebensmittelgeschäft, das Krankenhaus für die wöchentlichen Besuche, bei denen mein Vater sich die Krampfadern umwickeln lässt, meine Mutter bei Laune halten – das sind jetzt seine Freuden. Er will unbedingt beweglich bleiben, daher das Aussteigen aus dem Wagen in drei Akten: Tür öffnen, Beine herausschwingen – »Kommst du zurecht?« »Ja, ja.« –, die Arme seitlich an

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