Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
ein Festgehalt bei sozialen Einrichtungen, dem Diakonischen Werk u. ä., gewöhnlich gemeinnützigen Einrichtungen und Verbänden, die sich durch Spenden und Zuwendungen des Staates finanzierten.
Bevor ich diesen Mann traf, hatte ich die Vorstellung gehegt, dass es eine staatliche Stelle gäbe, die für jegliche Art von Behinderung zuständig war. Ich hätte mich nicht gründlicher irren können. »Es heißt, jeder gegen jeden«, erklärte mir der Advokat. Er war in den Dreißigern und trug Anzug und Krawatte. »Was Sie bekommen, bekommt dafür ein anderer nicht.« Er erzählte mir von Kindern, die man in Wohngruppen platziert hatte, und anderen, die ihre eigenen Wohnungen und 1 Million Dollar im Jahr zur Verfügung hatten, um ihr Pflegepersonal zu bezahlen: Es hing davon ab, wie man fragte, wen man fragte, wie man feilschte. »Aber Walker hat eine sehr große Bedürftigkeit, und das ist gut so«, sagte er.
Der Trick war, so lange durchzuhalten, bis man genau die Vereinbarung treffen konnte, die man haben wollte, denn wenn man anfangs weniger von der Regierung akzeptierte, war es anschließend schwierig, wiederzukommen und mehr zu verlangen. Wenn man allerdings einen Platz in einem anständigen Heim angeboten bekam und ihn ablehnte, dann landete man wieder ganz unten auf der Warteliste. Die Bilanz dieses ganzen Handels war ein uneinheitliches, geheimnisvolles, unvorhersehbares Spiel, das die Eltern eines behinderten Kindes in Angst versetzte und zugleich Gier erzeugte, schließlich aber auch auf eine peinliche Art dankbar werden ließ für alles, was sie im Endeffekt bekamen. Neue und noch exotischere Schuldgefühle begannen mich heimzusuchen. Wenn Walker die ganze Zeit in einer guten Wohngruppe lebte, würde das mindestens 200 000 Dollar im Jahr verschlingen. Wenn er fünfzig Jahre alt wurde, würde sich das insgesamt auf acht Millionen Dollar belaufen. Ich hatte keine acht Millionen Dollar, aber es gab acht Millionen Menschen in Ontario, der kanadischen Provinz, in der ich lebte. War Walker einen Dollar pro Person wert? Solche Berechnungen füllten nachts meinen Kopf.
Der Anwalt kannte jeden Trick, in diesem komplexen Spiel aus dem Effeff. Am Ende der eineinhalb Jahre, die wir miteinander verbrachten, war ich davon überzeugt, dass er genial war, und sagte ihm das auch. »Ich würde es begrüßen, wenn Sie Walker vertreten würden, wenn Sie das möchten und noch Platz für einen Klienten haben«, sagte ich und warf mich praktisch vor ihm in den Staub.
»Das würde ich gern«, sagte er. »Er braucht einen Vertreter. Da ist nur eine Sache: Ich steige aus diesem Geschäft aus und werde für das Ministerium arbeiten.« Es war ein Gefühl, als wären die Wände des Zimmers plötzlich eingestürzt. Eine neue konservative Regierung war jetzt an der Macht, und die sozialen Dienstleistungsträger hatten das Gefühl, sie bräuchten jemanden aus ihren Reihen tief im Staatsapparat. Beinahe zehn Jahre vergingen, bis ich wieder jemanden wie ihn kennen lernen sollte.
Aus einem Eintrag in meinem Notizbuch:
23. November 2003
Ein Anruf von Walkers Schule. »Wir sind an einem kritischen Punkt angelangt«, erklärt Alanna Grossman, die Direktorin. Er ist dazu übergegangen, sich den Kopf zu schlagen statt sich selbst zu beißen, zusätzlich zu seinem üblichen Zirkus von Ticks und Eskapaden.
Wir treffen uns um 9:00 Uhr morgens in der Schule. Anwesend sind Grossman, Walkers junge Lehrer, Thomas und Dean, ein Psychologe von der Schulbehörde, eine strenge, pedantische Frau in einem Hängerkleid mit Schottenkaro, zwei Referendarinnen, Johanna und ich. Johanna kommt frisch vom morgendlichen Kampf des Weckens, Waschens, Anziehens, Tröstens und Fütterns mit Walker und hatte deshalb auch keine Zeit, aus ihrem Pyjama zu schlüpfen, den sie noch immer unter ihrem Mantel anhat. Man braucht eine Armee, um für diesen Jungen zu sorgen. »Er braucht Stimulation«, sagt die Psychologin als Erklärung dafür, warum er sich selbst schlägt. Ich habe keine Ahnung, woher sie das wissen will. »Wir möchten, dass dieses Schlagen mehr zu einer Art Wahl wird.«
Diese Leute treffen sich wegen Walker einmal die Woche. Er bringt sich an acht von zehn Tagen in Gefahr. »Er kann einem festen Ablauf folgen, aber wird wütend, wenn der ihm übergestülpt wird«, sagte Dean. »Manchmal hilft es, wenn man fest bleibt.«
»Aber gleichzeitig wollen wir doch, dass er eine Wahl trifft«, wirft die Psychologin ein.
Ich möchte, dass sie einen anderen Beruf
Weitere Kostenlose Bücher