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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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und die Regierung sagt: › Nun, wir können nicht jedem alles geben. ‹ Meiner Meinung nach ist die Frage der Versorgung verquickt mit dem Thema Sozialfürsorge.« Melissas Behinderung war von einer Kette von Genen verursacht worden, die nicht richtig miteinander kommuniziert hatten. Aber Fergus glaubte, dass die Leute Kosten für die Versorgung Behinderter genauso kritisch gegenüber standen wie für Arbeitslose und Notleidende. Es machte den Eindruck, dass nicht wenige Menschen in der Verwaltung glaubten, dass Fergus tatsächlich die Zeit oder den Wunsch hätte, zu versuchen mitten in dem Irrsinn, den es bedeutet sich um ein behindertes Kind kümmern zu müssen, diese Behinderung auszunutzen, um der Regierung und den Steuerzahlern das Geld aus der Tasche zu ziehen.
    Die Alternative der Provinzregierung – sich auf die erweiterte Familie zu verlassen, damit sie für das behinderte Kind sorgte – funktionierte definitiv nicht. Der McCann-Clan war groß – vierundvierzig Menschen auf Bernice’ Seite, zusätzliche acht auf Fergus’. Keiner von ihnen hatte je angeboten, Melissa über das Wochenende zu sich zu nehmen. Ganz gleich, wie man das beurteilte – und Bernice klang ziemlich sauer: › Sie haben sich einundzwanzig Jahre lang nicht um uns gekümmert. ‹ –, es war keine Basis für Politik. »Die Regierung sollte einem das geben, was die Familie braucht«, sagte Fergus mit Nachdruck. »Fair heißt nicht Gleichmacherei. Jede Person hat andere Bedürfnisse.«
    Dennoch stand die feine Balance zwischen dem, worum man bitten konnte, und dem, was man benötigte und wie sehr man es benötigte, immer an oberster Stelle bei den Überlegungen der McCanns. Erst nach jahrelangem Bitten, hatte die Regierung von British Columbia zugestimmt, die Kosten für zwei Tagesbetreuer zu übernehmen, die bei den McCanns wohnen sollten. Das probierten sie dann für eine Weile aus.
    Aber eines Tages kam Bernice nach Hause und entdeckte, dass ihre Möbel umgestellt waren. Eines Nachmittags stellte sie fest, dass der Flaum auf Melissas Kopf von den Betreuern abrasiert worden war, damit sie weniger auffiel. Als Bernice mir diese Geschichten erzählte, fragte selbst ich mich anfangs, ob sie nicht zu viel verlangte. Sie hatte ein schwerbehindertes Kind, und die Regierung war bereit, eine Hilfe zu bezahlen, die bei ihr im Haus mit wohnte und half, das Kind mit zu versorgen: Das war besser als nichts. Vielleicht wäre ja etwas Dankbarkeit durchaus angebracht. Aber je mehr ich darüber nachdachte, umso falscher kam mir diese Argumentation vor. Unter welchen Umständen würde irgendjemand es als besondere Gunst empfinden, dass die Regierung einen Fremden dafür bezahlte, dass er einen in den eigenen vier Wänden bevormundete?
    Melissa war eine Anomalie und noch dazu eine irritierende, und irritierende Anomalien sind nicht das, was staatliche Bürokratien am besten können. Behinderte sind eine Herausforderung für jeglichen Wunsch nach Ordnung: Sie erschrecken uns, wenn nicht mit ihren Gesichtern, dann doch mit ihrer offenkundigen Bedürftigkeit. Sie verlangen von uns, viel mehr zu sein, als wir je gedacht haben, sein zu können. Die Natur von Melissas Behinderung an sich war ein unheilbares Problem, ein Zeichen eines Irrtums und eines Defekts: Es gab keine dauerhafte Einheitsgrößen-Lösung, ganz gleich, wie praktisch und großzügig die Bürokratie zu sein versuchte. Tagesbetreuer! Finanzierung nach Quadratmetern pro Einrichtung! Wohngruppen! Alles gute Ideen und alle gleichzeitig dazu verdammt, irgendwann bei irgendjemand zu scheitern. Und natürlich wollten wir alle Lösungen, die Bürokratie und die Eltern gleichermaßen: Wir wollten uns alle davon befreien, der dunkleren Wahrheit ins Auge sehen zu müssen, dass jede Behinderung etwas Persönliches, Einzigartiges und womöglich Unlösbares war.
    Walker ist eine Tatsache. Er wird sein ganzes Leben so bleiben, wie er ist. Er bedeutet Vieles für mich, nicht zuletzt ist er ein Mahnmal meiner eigenen Fragilität und Angst. Ich kann es mir leisten, diese Fehler zuzugeben, in meinen eigenen Gedanken, aber die Bürokratie kann das nicht. Und so wird die bürokratische Lösung stattdessen zur »Großen Lösung« und unterschiedslos angewendet. Dies ist die unvermeidliche Geschichte von geistigen Behinderungen wie psychischen Erkrankungen gleichermaßen. Fünfzig Jahre, nachdem Philippe Pinel 1801 den »Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou La Manie«

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