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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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erklären konnte.

Zehn
    DIES SIND DIE Begriffe des Glossars, die »helfen, das Cardio-Facial-Cutane-Syndrom« zu verstehen, wie sie auf der »Genetics Home Reference«-Seite der United States Library of Medicine aufgelistet sind:
    Apoptose, atrial, autosomal, autosomal dominant, cardio, Cardiomyopathie, Cutaneus, Differenzierung, Gedeihstörung, geistige Behinderung, Gene, Gewebe, Herzklappe, Hypertelorismus, hypertrophisch, Hypotonie, Ichthyosis, Inzidenz, Keratosis, Kleinwuchs, Krampfanfall, Krebs, Makrozephalie, Malformation, Muskeltonus, Mutation, Nucleus, okularer Hypertelorismus, palpebrale Fissur, Proliferation, Protein, Ptosis, Pulmonalstenose, Ras, Septumdefekt, Statur, Stenose, Symptom, Syndrom, Zelle.
    Die Sprache von Walkers Fremdheit nahm mich gefangen. Neue Wörter, durchtränkt von der vorgespiegelten Exaktheit medizinischer Terminologie, waren für eine neue Schöpfung erfunden worden, als würden alle diese Begriffe etwas Hilfreiches und Nützliches besagen, was sie im Vergleichsmaßstab natürlich auch taten. Die verlockende vielsilbrige Komplexität, die nötig war, um einen Simpel zu beschreiben, um einmal den alten, einst auch wissenschaftlichen Ausdruck für solch einen Jungen zu gebrauchen. Alles, was Walker betraf, wurde durch etwas anderes noch komplizierter, und es gab viele Tage, an denen ich das durchaus schätzte, an denen es ihn komplexer machte und mir noch mehr zu denken gab. Manchmal war es alles, worüber ich nachdenken konnte.
    An dem Morgen, an dem ich den wissenschaftlichen Aufsatz las, der verkündete, dass eine Genetikerin namens Kate Rauen eine Mutation in drei Genen entdeckt hatte, die man mit CFC assoziiert, saß ich gerade an meinem Schreibtisch beim Globe and Mail , der großen Tageszeitung, für die ich arbeite. Es war ein Dienstag im April 2007. Mein Schreibtisch steht frei im Raum: für die tägliche Tretmühle ein angenehmer Ort, um zu schreiben. Aber an jenem Morgen musste ich aufstehen und nach draußen gehen. Ich bekam keine Luft mehr. Ein Gen, das CFC verursachte. Nach elf Jahren, in denen wir mit dem Rätsel Walker gelebt hatten, war das eine aufregende, aber auch erschreckende Vorstellung: Meine Beziehung zu Walker war schließlich sehr persönlich und privat gewesen, wir gingen nach unseren eigenen Maßstäben miteinander um, dem entsprechend, was zwischen uns funktionierte. Ich »sprach« mit ihm, und er »sprach« mit mir, wir schnalzten im Wechsel mit der Zunge, um dem anderen zu vermitteln, dass man aufmerksam war, dass man wusste, dass der andere da war und zuhörte. Jetzt gab es da ein Gen, eine unpersönliche wissenschaftliche Ursache, an der Wurzel dieses Leidens. Was würde mir das nun sagen? Und würde es mir nun auch den Glauben an das nehmen, was ich insgeheim für mich die geheimen Fähigkeiten meines Sohnes nannte? Würde ich immer noch Trost aus unserer privaten Schnalzsprache ziehen – um nur ein Beispiel zu geben –, wenn das Gen besagte, dass das sinnlos war, dass eine solche Verbindung jenseits seiner Möglichkeiten lag? Bislang hatte ich meinen Sohn bereits mit seinem anderen Zuhause teilen müssen. Musste ich ihn jetzt auch noch mit dem Labor teilen?
    Ich will gar nicht sagen, dass in dieser Entdeckung nicht auch große Hoffnungen lagen. Wenn ich wusste, welcher genetische Defekt Walkers Leiden verursacht hatte, dann hatte ich auch einen Haken, an den ich diese Leiden hängen konnte. Vielleicht bekäme ich auf diese Art sogar ein Heilmittel für sie. Es gäbe eine klare und unanfechtbare Ursache, etwas, dem man die Schuld geben konnte, und etwas, das man heilen konnte – ein Bröckchen konkreter Fakten in einem Meer von Spekulationen und Vagheit, das sein Leben und unseres ausmachte.
    Zwei Wochen später flog ich nach San Francisco, um Dr. Rauen zu interviewen. Am Flughafen mietete ich ein Auto mit einem Navigationssystem. Es war das erste Mal. Bis dahin hatte ich immer Straßenkarten benutzt. Ich mochte Karten, mochte die Art, wie sie einem in Form eines Stadtplans einen Überblick über einen Ort verschaffen, der einem neu und unvertraut war, bevor der Ort dann in lauter Einzelheiten zerfiel, ganz aus der Nähe und unvermeidlich.
    Mit dem Navi konnte ich also noch nach Einbruch der Dunkelheit eine große und verwirrend komplizierte Stadt anfliegen, dann ein Auto mieten und die Adresse eingeben, zu der ich gelangen wollte. Das Navi sagte mir, ich solle bei der Ausfahrt aus dem Parkplatz nach links abbiegen, und jagte mich sofort auf eine

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