Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Johannas.
Hartley wirkte unglaublich jung, wenn man bedachte, wie viel sie wusste. Sie hatte schwarzes Haar und einen leichten Gothic-Style. Bei unserem Termin gesellte sich einer ihrer Chefs hinzu, ein schlanker Wissenschaftler mittleren Alters namens David Chitayat, ein erfahrener Genforscher am Hospital for Sick Children. Die Tatsache, dass bei Walker bei drei Genen, die gewöhnlich mit CFC in Verbindung gebracht wurden, keine Mutationen nachgewiesen worden waren, versicherten uns die Berater mit Nachdruck, bedeutete nicht viel. »Wenn wir nichts finden, heißt das nicht notwendigerweise, dass er kein CFC hat«, sagte Hartley entschuldigend. »Wenn alles mit einem negativen Ergebnis zurückkommt, können wir den Test noch einmal wiederholen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es CFC ist, ist sehr hoch.« Sie schlug einen erneuten Test vor, um dieses Mal auch nach anderen Mutationen zu schauen, namentlich dem Noonan- und dem Costello-Syndrom.
Während ihre Kenntnisse über CFC und seine Schwester-Syndrome wuchs, waren mehr und mehr Forscher erneut der Meinung, dass CFC , Noonan und Costello verwandte Syndrome waren – »Ras-Transduktionswegs-Störungen« oder »Noonan-Spektrum-Störungen«.
Das Genom enthüllte allmählich seine tiefsten Geheimnisse, und die Forscher begannen, eine immer größere Reihe von geistigen Behinderungen – besonders wenn sie mit der Entstellung der Gesichtszüge und Herzproblemen einhergingen – auf Störungen der intrazellulären Übermittlungswege zurückzuführen. Die Körper dieser Kinder schienen nicht entscheiden zu können, wann sie Zellen bauen und wann sie damit aufhören sollten.
Chitayat war ein sehr angesehener Genetiker, der dieses Gebiet schon lange erforschte. Die Mutation hätte sich, sagte er, in den ersten beiden Wochen von Walkers Leben im Mutterleib zugetragen. Jedes der verschiedenen Gene, die man mit CFC verknüpfte, sollte sein An/Aus-Signal in einem unterschiedlichen Stadium in der »Kaskade« der Kommunikation vollziehen, die innerhalb einer Zelle stattfand: Das mutierte BRAF -Gen kam früher ins Spiel (oder »phosphorylierte« früher) und beschädigte daher die Botschaft der Zelle auf einer stärker operativen Ebene, als die MEK -Gene es taten. Aber die Transduktionswege beeinflussten sich auch selbst, mit dem (möglichen) Effekt, dass MEK -mutierte CFC -Kinder physisch anfälliger, doch auf der kognitiven Ebene weniger stark eingeschränkt waren. Das war zumindest eine Theorie – und es war sowieso alles Theorie. Genetiker hatten ein riesiges Reich der menschlichen Physiologie entdeckt, aber es wirkte oft so, als würden sie weniger verstehen, wie alles zusammenpasste, je mehr sie dabei entdeckten.
Jessica Hartley, David Chitayat und Kate Rauen arbeiteten an vorderster Wissenschaftsfront und gründeten ihre Hypothesen auf bekannte und in Tests nachweisbare biochemische Reaktionen, aber es gab Tage, an denen mir ihre Spekulationen kaum anders vorkamen als die medizinischen Reinigungsrituale des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich, als man vertrauensvoll Kaffee und Ruß aus dem Kamin gegen den Wahnsinn verschrieb und Melancholie als heilbar betrachtet wurde, indem man einem Menschen zehn Unzen Blut abzapfte und es durch das Blut eines Kalbs ersetzte. Chitayat fügte jedenfalls hinzu: »Das Wichtige für uns ist, die Diagnose zu finden für das, was er hat. Aber die Ursache für das, was er hat, angeben zu können, ist nicht so einfach.«
Nachdem wir eine Stunde miteinander gesprochen hatten, waren die nächsten Schritte klar. Wir würden noch mal einen CFC -Test machen, um sicherzugehen, dass wir kein falsches Ergebnis erhalten hatten. Wir würden auch den Test für Noonan- und Costello-Mutationen machen, sowie für mehrere andere Ras-Transduktionswegs-Cousins. Wenn jene Tests ebenfalls negativ ausfielen, würden wir einen Schritt zurück machen und eine Mikroanalyse von Walkers chromosomaler DNA durchführen. Das mikroanalytische Scannen von Chromosomen war unendlich feiner als die Chromosomenuntersuchung, die durchgeführt worden war, als Walker ein Baby gewesen war. »Die Mikroanalyse sucht nach fehlenden oder zusätzlichen Teilen in den Chromosomen«, erklärte Dr. Chitayat – fehlenden Worten im genetischen Satz seines Lebens –, »während der Gentest auch nach den Buchstabierfehlern sucht.« Wenn Walker eine Mutation in einem bislang unentdeckten Gen hatte, die zu einer Chromosomenaberration geführt hatte, dann könnte die
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