Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
sein.«
Ich dankte Kate Rauen für das Gespräch, verließ ihr Büro, ging vor dem Gebäude über die Straße und setzte mich auf eine Bank, um über das nachzudenken, was sie gerade gesagt hatte. Die wissenschaftliche Definition eines evolutionären Erfolges, einer erfolgreichen zufälligen Mutation, ist eine, die es dem Organismus erlaubt, zu überleben und sich zu reproduzieren. Die Natur allein hätte meinem Sohn nicht gestattet zu überleben.
Im Urteil der Genetiker war mein Sohn ein schädlicher Effekt der Natur.
Aber er war nicht allein ein Produkt der Natur. Er hatte überlebt, und sein Überleben war auch ein Ergebnis des medizinischen Fortschritts und menschlicher Fürsorge – das Ergebnis einer PEG -Sonde, von Medikamenten und der ständigen Aufmerksamkeit eines ganzen Teams von Menschen, die glaubten, dass die Beschäftigung mit ihm für ihn selbst und für sie einen Wert besaß, selbst wenn das nur schwer zu beweisen war. Mit Walker konnte man nicht groß herumprahlen, weder was seinen Intellekt noch was seinen Körper anbelangte. Aber wie viele andere CFC -Kinder hatte er Leben verändert, meins und das von anderen – hatte mein Leben vertieft und erweitert, mich toleranter und beständiger gemacht, moralisch zuverlässiger. Er hatte mir zu Weitsicht verholfen. Das fühlte sich auch wie eine Art von Evolution an, eine positive ethische Evolution, wenn auch nicht die, die die moderne Genomforschung misst.
Dann sah ich auf und stellte fest, dass ich vor einer Straßenskulptur saß, »Ohne Rücksicht auf die Geschichte«, von einem Engländer namens Bill Woodrow. Sie war zwei Meter zehn hoch und aus Bronze – ein dünner Baum, verdorrt und ohne Blätter, verkrüppelt, der aus einem Fels wuchs. Aber er wuchs.
Ich flog nach Toronto zurück. Der Sommer wurde zum Herbst. Unsere Suche nach etwas mehr Einblicken in Walkers Zustand begann von Neuem.
An einem Mittwochmorgen im Oktober traf ich Tyna Kasapakis, die Leiterin von Walkers anderem Zuhause, in der genetischen Abteilung des Hospital for Sick Children. Auch Walker war da. Die Klinik befand sich im vierten Stocks eines Bürogebäudes in der Innenstadt von Toronto. Von vorn sah das Gebäude wie ein riesiger Lippenstift aus. Einmal hatte sich dort die Konzernzentrale einer Schweizer Bank befunden. Der Mann vom Sicherheitspersonal hinter dem Schreibtisch in der Eingangshalle nickte mir ein »Guten Morgen« zu. Er musste schon einiges gesehen haben. Ich nahm den Fahrstuhl nach oben und stieg im vierten Stock aus, ging den Flur entlang, um dann in dem gleichen makellosen Wartezimmer zu sitzen, in dem ich schon vor beinahe zwölf Jahren Däumchen gedreht hatte, als Walker mit CFC diagnostiziert worden war. Ich war schon früh da, vor Tyna und Walker, und musste warten, wie schon damals, dass jemand am Empfangstresen auftauchte. Es machte mir nichts aus. Ich liebte die optimistische Ruhe dieses Büros vor neun Uhr morgens. Ich seufzte und atmete wieder die geruchlose unbewegte Luft leerer Flure ein, zusammen mit der üblichen flüchtigen Illusion, dass wir die einzigen Menschen waren, die je hierher kamen, eine seltene Art, die sich in einer makellosen, sonst Mutanten-freien Welt hier und dort angesiedelt hatte. (Termine in der genetischen Klinik wurden so verteilt, dass ein Minimum an Interaktion zwischen den Abweichungen gewährleistet war.)
Nachdem er elf Jahre mit der klinischen Diagnose von CFC gelebt hatte, wurde Walker nun genetisch getestet. Beim kanadischen System öffentlich finanzierter Medizin bedeutet ein genetischer Test auf CFC eine sechsmonatige Wartezeit: drei Monate für die Gesundheitsfürsorge der Provinz, damit sie die Kostenübernahme für den Test zusagten, und weitere drei Monate, um eine Probe von Walkers DNA zu erhalten, Formulare auszufüllen, die Probe ans Labor zu schicken, sie testen zu lassen und die Ergebnisse zu erhalten.
Die übliche Routine setzte ein. Während Walker Spielzeug im Spielzimmer herumschmiss und sich auf meinen Schoß setzte und wieder herunterkletterte, ging ein genetischer Berater (manchmal auch zwei) die üblichen Verzichtserklärungen durch. Es gab keine Garantie dafür, dass sie eine Abweichung in seinen Genen fanden, aber das hieß nicht, dass er kein CFC hatte. Wenn diese Tests dreier Gene negativ waren, würden wir die Suche weiter ausdehnen, auf seltenere (und was die Tests anbelangte teurere) Gene. Auch dann war eine Diagnose keine Heilung. Der Standard genetischer Forschung stieg stetig, aber
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