Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
haben einfach Angst davor, Leute mit Behinderungen zu sehen«, antwortete Vanier. »Das besagt für sie vielleicht, eines Tages könntest du einen Unfall haben und vielleicht auch behindert sein. Sie wissen, wir haben Angst vor dem Tod. Und die Behinderten sind ein Zeichen des Todes.« Dann begann er mit einer Geschichte über die erste Person, die in einem Heim von L’Arche in Trosly gestorben war, ein Assistent namens François. Als sich die Nachricht darüber unter den Bewohnern verbreitete, beschlossen zwei von ihnen, dass sie François sehen wollten. Ein anderer Assistent führte sie in das Besuchszimmer, wo François’ Leiche in einem offenen Sarg lag. Einer der Männer, Jean-Louis, fragte den Assistenten, ob er François zum Abschied küssen dürfte. Der Assistent sagte, natürlich dürfe er das. Und so küsste Jean-Loius den toten François. »Oh Scheiße!«, rief er aus. »Er ist kalt!« Dann ging er wieder. Der Assistent hörte, wie Jean-Louis auf dem Weg aus dem Zimmer sagte: »Alle werden so überrascht sein, dass ich einen toten Menschen geküsst habe!«
Vanier hörte auf zu sprechen, sah mich an und zuckte mit den Schultern. »Was passiert da?«, sagte er dann. Zu meiner Erleichterung erwartete er nicht, dass ich eine Antwort darauf hatte: Vanier würde es mir schon erzählen. »Ich glaube«, sagte er, »dass er seine eigene Behinderung küsste. Und wenn man behinderte Menschen akzeptiert, akzeptiert man in gewisser Weise seinen eigenen Tod.«
Plötzlich war ich dabei, Vanier die Geschichte von Walkers Bad zu erzählen – dass ich mich, wenn ich mich völlig daneben fühlte, wenn nichts half, besser fühlte, wenn ich Walker badete, weil er sich dann auch besser fühlte.
»Sehen Sie?«, sagte Vanier. »Sie baden Ihre eigene Behinderung.«
Das war eine Sichtweise, die mir nie zuvor begegnet war, das kann ich mit Sicherheit sagen.
»Was ist es, das dazu führt, dass sie einem anderen Ihr Herz öffnen?«, fragte Vanier.
Ich starrte ihn an. Ich hatte keine Antwort.
»Eine schwache Person«, sagte Vanier. »Jemand, der sagt: › Ich brauche dich ‹ . Wenn die Bedürftigkeit dieser Person zu groß ist, um befriedigt werden zu können, wie es oft der Fall bei Eltern ist, die sich allein um ein schwerbehindertes Kind kümmern, dann resultierten daraus Schuld und Unglück. »Aber Eltern in einem Dorf, in dem es junge Leute gibt, die vorbeikommen, bei Walker sitzen und mit ihm spazieren gehen und all diese Dinge, das verändert das Leben. Aber ganz allein ist es der Tod.
Ich meine, es ist verrückt. Wir alle wissen, dass wir sterben müssen. Manche von uns werden mit zehn sterben. Wir beginnen in aller Zerbrechlichkeit, wir wachsen auf, wir sind gleichzeitig zerbrechlich und stark, und dann beginnen wir wieder, schwach zu werden. Also ist die ganze Frage der Menschwerdung die, wie man Stärke und Schwäche integriert. Sie sprechen von Ihrer Verletzlichkeit mit Walker. Etwas ist mit Ihnen geschehen, das Menschen, die das nicht durchlebt haben, was Sie durchlebt haben, nie ganz werden verstehen können – Sie sind zu einem Menschen geworden, indem Sie ihre eigene Verletzlichkeit akzeptiert haben. Weil Sie sagen konnten: Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir in jedem Augenblick wissen müssen, was wir tun. Aber wenn wir stattdessen vom Ort unserer Schwäche ausgehen, was geschieht? Wir sagen zu den Leuten, ich brauche eure Hilfe. Und dann schafft man Gemeinschaft. Und genau das ist hier geschehen.«
Wir unterhielten uns eineinhalb Stunden lang. Am Nachmittag schimmerte das Licht draußen goldgelb. »Wenn wir nicht von einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz basiert, zu einer Gesellschaft übergehen, die darauf basiert, dass man die Menschen wieder im Dorf willkommen heißt«, sagte Vanier, »werden wir niemals von unserer Fixierung auf Stärke weg kommen. In gewisser Weise ist das alles, was L’Arche ist: Es ist ein Dorf, in dem wir uns treffen können. Wir feiern das Leben. Und das ist genau, was diese Menschen tun. Sie feiern mit den Schwachen. Wenn man stark ist, dann feiert man mit Whisky.«
Vanier machte eine Pause und verschränkte seine Hände hinterm Kopf. »1960 war die große Frage in Frankreich, was für eine Art von Gesellschaft wollen wir? Ist es die Gesellschaft von Mao Tse-tung? Ist es die Gesellschaft in Russland? Ist es eine leicht abgewandelte Form des Kommunismus? Heute fragt niemand, was für eine Art von Gesellschaft wir wollen. Sie
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