Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
unterrichtet.
Aber hier war das anders. Wir konnten herumalbern. Weil die Sprache von Menschen mit Behinderungen die Sprache des Scherzes, des Spaßes und der Alberei ist. Aber das wissen Sie ja schon von Walker. Seien Sie nicht zu ernst. Feiern Sie das Leben, haben Sie Spaß.« Nun folgte ein weitreichendes dreifaches gegenseitiges Akzeptieren: Vanier akzeptierte seine beiden neuen behinderten Gefährten, sie akzeptierten ihn und, vielleicht das Bedeutsamste überhaupt, Vanier akzeptierte sich selbst in seiner neuen, nicht mehr so ehrgeizigen, gegenkulturellen Rolle.
Er nannte das Haus L’Arche nach der biblischen Arche Noah. Zu seiner Überraschung erregte diese Unternehmung in den folgenden Jahren einige Aufmerksamkeit, und schließlich flossen auch Spenden und öffentliche Gelder, die ihm eine Expansion ermöglichten.
»Am Anfang bewegte sich Jean noch sehr in den traditionellen Bahnen von Wohltätigkeit für die Armen«, hat Jean-Louis Munn mir erzählt, als wir uns kennen lernten. »Aber dann veränderte sich das: Er begriff, dass er davon profitierte. Danach wollte Jean eine Stimme für die Menschen sein, die keine Stimme hatten. Er entdeckte schnell, dass das einfache Leben, das Leben mit Raphael und Phillippe, sehr befriedigend war. Allmählich, angelockt von Vanier und der Mundpropaganda, kamen junge Leute aus der ganzen Welt zu L’Arche, um ein Jahr, zwei Jahre oder mehr dort zu arbeiten. (Jean-Louis Munn und Gary Webb waren zwei von ihnen, so wie viele andere auch, die dreißig Jahre später immer noch für die Organisation tätig waren.) 1971, als L’Arche international expandierte, war der Wunsch nach Wohnplätzen dort ungeheuer gestiegen, insbesondere von Eltern, die nicht länger auf ihre erwachsenen Kinder aufpassen und für sie sorgen konnten. L’Arche konnte nicht für alle Häuser und Gemeinschaften errichten, aber in dem Jahr schuf Vanier mit der Hilfe einer Kollegin, Marie-Hélène Mathieu, »Glauben und Licht«, ein Netzwerk erweiterter Unterstützungsgruppen für Menschen, die keine Zuflucht zu einer umfassenden L’Arche-Betreuung in Form eines Heimplatzes nehmen konnten. Heute gibt es beinahe fünfzehnhundert »Glaube und Licht«-Netzwerke in achtundsiebzig Ländern, die sich ebenso um die Eltern von Behinderten kümmern wie um die Behinderten selbst – eine Evolution, mit der sich Vanier anfangs nicht so wohl fühlte. »Am Anfang galt meine Sorge überhaupt nicht ihnen: Ich habe lange gebraucht, um den Eltern wirklich zuhören zu können«, sagte er und lehnte sich in dem Sessel in seinem Arbeitszimmer zurück. »Denn bei den meisten Menschen, die wir anfangs zu uns holten, war es so, dass ihre Eltern entweder tot waren oder dass sie ihre Kinder, als diese noch klein waren, ihrem Schicksal überlassen hatten. Und so hegte ich anfangs ein gewisses Ressentiment gegen diese Eltern.« Ich konnte dieses Gefühl verstehen: Ich hegte ein gewisses Ressentiment gegen mich selbst, weil ich zugelassen hatte, dass Walker jetzt woanders lebte, auch wenn das nötig gewesen war. Aber als Vanier mehr Eltern kennen lernte, die ihre Kinder nicht allein gelassen hatten und dennoch nicht mehr für sie sorgen konnten, begann seine Strenge den Eltern gegenüber allmählich aufzuweichen. Mehr und mehr traf es ihn, in was für einem gewaltigen Meer von Schmerz und Schuldgefühlen viele Eltern behinderter Kinder versuchten, sich irgendwie über Wasser zu halten.
»Die Schuldgefühle. Diese Schuldgefühle. Die Eltern behinderter Kinder waren außerordentlich gequälte Menschen, weil viele von ihnen Schuld empfinden. Sie stellen sich schreckliche Fragen, warum ist das ausgerechnet mir passiert? Man findet das im Kapitel über die Heilung eines Blindgeborenen im Evangelium des Johannes, als Jesus und seine Jünger auf einen Menschen stoßen, der blind geboren ist. Und sofort kommt die Frage, warum? Wessen Schuld ist das? Hat er eine Sünde begangen oder haben seine Eltern eine Sünde begangen? Warum haben sie so einen Sohn, und warum haben andere nicht so einen Sohn? Man zerbricht sich den Kopf über solche Dinge – wir können eine Menge Zeit damit verbringen, dass wir die falschen Fragen stellen. Die richtige Frage ist. Wie kann ich dir helfen, mein Sohn, glücklicher zu sein? Die falsche Frage ist: Ist es meine Schuld?«
»Aber die gesellschaftliche Abwehr ist immer noch immens«, sagte ich. »Die Menschen wollen nicht an die Behinderten erinnert werden. Warum ist das so?«
»Ich glaube, die Menschen
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