Der Junge mit dem Herz aus Holz
Hause. Ich bringe ihm gerade bei, wie man beim Poker mogelt, damit er ein Vermögen machen kann, bevor er achtzehn wird.«
Der Hausdetektiv glotzte sie mit großen Augen an. Er war es gewöhnt, dass Eltern sich in solchen Situationen wütend auf ihre Kinder stürzten und sie schüttelten, bis ihnen die Zähne herausfielen, weil sie die Wahrheit hören wollten. Aber Noahs Mutter sah aus wie eine Mutter, die ihrem Sohn tatsächlich glaubte, wenn er ihre Fragen beantwortete, und das war etwas, was man nicht jeden Tag erlebte.
»Du hast die Karten nicht gestohlen, stimmt’s«, fragte sie und drehte sich zu Noah, aber so wie sie es sagte, klang es eher wie eine Aussage als wie eine Frage.
»Natürlich nicht«, sagte Noah, und das war die Wahrheit, weil er die Karten ja wirklich nicht gestohlen hatte.
»Also gut.« Seine Mutter schaute den Wachmann an und zuckte die Achseln. »Dann gibt es zu diesem Thema nichts mehr zu sagen. Eine Entschuldigung Ihrerseits würde mir für den Augenblick genügen, aber ich denke, Sie sollten später einer Wohltätigkeitsorganisation meiner Wahl etwas spenden, als Wiedergutmachung für Ihre ungerechtfertigten Anschuldigungen. Am besten einer Organisation, die etwas mit Tieren zu tun hat, würde ich sagen. Mit kleinen Pelztieren, denn die mag ich am liebsten.«
»Ich glaube, so einfach ist die Sache nicht, Madam«, beharrte der Hausdetektiv. »Die Tatsache bleibt bestehen, dass die Karten sich in der Hosentasche Ihres Sohnes befanden. Und
irgendjemand
muss sie da reingesteckt haben.«
»Ach ja?« Sie nahm Noah die Karten aus der Hand und reichte sie dem Hausdetektiv. »Aber das sind
Zauber
karten, stimmt’s? Wahrscheinlich sind sie aus eigenem Antrieb in seine Tasche gehüpft.«
Das war eine schöne Erinnerung. Aber an solche Dinge wollte Noah eigentlich nicht denken. Und es war in einem Laden passiert, der völlig anders war als der, in dem er jetzt stand. Hier gab es zum Beispiel keine Hausdetektive. Niemand konnte ihm etwas vorwerfen, was er gar nicht getan hatte. Er biss sich auf die Unterlippe und blickte sich nervös um. Sollte er nicht doch lieber wieder nach draußen gehen und zum nächsten Dorf wandern? Aber ehe er das tun konnte, wurde er abgelenkt durch Geräusche, die immer näher kamen.
Schritte.
Schwere, langsame Schritte.
Noah hielt die Luft an und horchte. Dabei kniff er die Augen zusammen, als könnte er dadurch besser hören, und einen Moment lang schienen die Schritte zu verstummen. Er atmete erleichtert auf und wollte gehen, aber da setzten die Schritte wieder ein. Wie angewurzelt blieb er stehen, wo er gerade stand, und versuchte herauszufinden, woher sie kamen.
Unter mir!
, dachte er und schaute nach unten.
Und tatsächlich, die Schritte kamen von unten nach oben. Der dumpfe Takt schwerer Stiefel, die langsam eine Treppe hinaufstiegen und immer näher kamen. Noah blickte sich suchend um, ob vielleicht sonst noch jemand sie hören konnte. Da wurde ihm plötzlich bewusst, dass er vollkommen allein war. Bis jetzt war ihm noch gar nicht richtig aufgefallen, dass er der einzige Mensch im Laden war.
Bis auf die Marionetten natürlich.
»Hallo?«, flüsterte Noah ängstlich, und seine Stimme hallte leise wider. »Hallo – ist da jemand?«
Die Schritte hörten auf, setzten wieder ein, wurden noch langsamer, verstummten, begannen von neuem und wurden schließlich immer kräftiger.
»Hallo?« Diesmal fragte er etwas lauter, und jeder einzelne Nerv in seinem Körper spannte sich. Er schluckte. Wieso empfand er auf einmal diese komische Mischung aus Angst und Geborgenheit? Beides gleichzeitig. Das Gefühl war überhaupt nicht so wie damals, als er sich im Wald verirrt hatte und seine Eltern ihn erst am nächsten Morgen fanden, kurz bevor die Wölfe ihn fraßen. Das war echt gruselig gewesen. Und es war auch nicht wie an dem Nachmittag, als er im dunklen Keller eingeschlossen war, weil die Tür nicht mehr aufging und das Licht nicht funktionierte – also, das hatte er vor allem nervig gefunden. Aber das jetzt war vollkommen anders. Noah hatte das Gefühl, als
müsste
er einfach hier sein. Und als müsste er sich gleichzeitig wappnen gegen das, was als Nächstes kommen würde.
Er drehte sich um und schaute zum Eingang, doch zu seiner großen Überraschung konnte er die Tür nicht mehr sehen. Anscheinend hatte er sich schon so weit von ihr entfernt, dass sie außer Sichtweite war. Dabei konnte er sich nicht erinnern, weit gegangen zu sein, und der Laden war ihm
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