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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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schreckliche Angewohnheit, immer wieder in Noahs Zehen aufzutauchen und dann zu seinen Knöcheln zu laufen, die Beine hinauf und über den Rücken bis rauf ins Gehirn, von wo er Bilder in seine Augen schickte, die Noah nicht sehen wollte.
    »Ich habe alles Mögliche gemacht, als ich ein Junge war«, sagte der alte Mann. »Und nicht alles war besonders vernünftig.«
    Noah gefiel die Idee, dass jemand etwas machte, was nicht besonders vernünftig war, und er wollte den alten Mann danach fragen, aber ehe er dazu kam, fiel sein Blick auf eine große Holzkiste, die neben seinen Füßen auf dem Boden stand. Er wunderte sich, dass sie ihm gar nicht aufgefallen war, als er sich hinsetzte, denn sie war kunstvoll verziert und sah aus wie eine der Antiquitäten, die seine Mutter in den Geschäften immer in die Hand nahm und ausgiebig bewunderte, weil sie sich wünschte, sie könnte so was für zu Hause kaufen. Die Schnitzerei auf dem Deckel erinnerte an die Marionetten unten an den Wänden. Noah beugte sich hinunter, um die Kiste näher zu betrachten.
    »Haben Sie das gemacht?«, fragte er und schaute kurz hoch. Der alte Mann schüttelte den Kopf.
    »O nein«, antwortete er. »Diese Kiste stammt nicht von mir. Ich bin handwerklich nicht so gut. Du siehst ja, wie erstklassig da jedes Detail gearbeitet ist.«
    »Sie ist echt wunderschön«, sagte der Junge und fuhr mit dem Finger die Umrisse der Schnitzerei nach. Die Marionette auf der Kiste wirkte sehr fröhlich: Ein Junge mit einem langen, zylindrischen Körper und mit einem spitzen Hütchen auf dem Kopf. Seine Beine waren erstaunlich dünn, und man hatte den Eindruck, dass er nicht besonders lang darauf stehen konnte, ohne zusammenzuklappen.
    »Du würdest dich wundern«, sagte der alte Mann, als könnte er Noahs Gedanken lesen. »Wenn man für die Marionetten das Holz eines sehr alten Baums nimmt, dann ist dieses Holz so stark, dass es eine Ewigkeit hält, solange man es richtig behandelt. Diese Marionette könnte wahrscheinlich bis ans Ende der Welt rennen und wieder zurück, und sie würde nur eine frische Schicht Lack brauchen.«
    »Wenn Sie die Kiste nicht gemacht haben – wer dann?«, fragte Noah.
    »Mein Vater«, antwortete der alte Mann. »Vor langer Zeit. Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr hineingeschaut. Da drinnen befinden sich viele Erinnerungen. Und manchmal ist es schwer, der Vergangenheit ins Auge zu sehen. Schon ein einziger Blick auf die Erinnerungsstücke kann einen sehr traurig machen. Oder mit Reue erfüllen.«
    Was er sagte, machte Noah nur noch neugieriger. Er schaute auf die Kiste hinunter, kaute auf der Unterlippe, blickte wieder hoch – er musste unbedingt wissen, was darin verborgen war!
    »Darf ich die Kiste öffnen?«, fragte er schließlich. Er fand es am einfachsten, die Frage ganz direkt zu stellen. »Kann ich sehen, was drin ist?«
    Der alte Mann machte den Mund auf, um etwas zu antworten, aber dann schaute er weg. Er schien verwirrt, als wüsste er nicht, ob er schon bereit war, die Kiste mit seinen Erinnerungen der Welt zu zeigen. Weil Noah seinen Gastgeber nicht beim Denken stören wollte, sagte er kein Wort, bis der alte Mann ihn wieder anschaute und lächelnd mit dem Kopf nickte.
    »Wenn du möchtest«, sagte er leise. »Aber du musst mit den Sachen, die du darin findest, sehr behutsam umgehen. Sie sind für mich sehr wertvoll.«
    Begeistert hob Noah die Kiste hoch und stellte sie vor sich auf den Tisch. Er sah, dass die Seiten mit derselben Marionette verziert waren wie der Deckel, aber hier war der Junge umgeben von ausländisch aussehenden Bauwerken – Noah war sich sicher, dass er sie aus seinem Erdkundebuch kannte. Eins der Gebäude sah aus wie der Eiffelturm in Paris, ein anderes wie das Kolosseum in Rom. Noah legte die Hände seitlich an den Deckel und öffnete ihn ganz langsam. Er hielt den Atem an, weil er davon überzeugt war, dass er gleich etwas ganz Einmaliges sehen würde.
    Zu seiner großen Enttäuschung waren in der Kiste nur Marionetten.
    »Oh«, sagte er.
    »Oh?«, fragte der alte Mann. »Stimmt etwas nicht?«
    »Na ja, ich habe gedacht, es sind vielleicht Fotos darin«, sagte Noah. »Ich mag Fotos nämlich sehr. Oder alte Briefe. Aber es sind nur noch mehr Marionetten. Wie die unten im Laden. Sie sind natürlich sehr schön«, fügte er schnell hinzu, weil er ja nicht unhöflich sein wollte, holte eine Puppe heraus, studierte sie ausführlich und legte sie vorsichtig wieder zurück »Ich habe nur gedacht, dass

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