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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Riesenhunger hatte. Seine Mutter sagte nämlich immer, er solle Rücksicht nehmen auf die anderen Leute am Tisch und nicht fressen wie ein Ferkel, das seit einem Monat kein Futter bekommen hat. Nein, er kaute leise und langsam und genoss jeden Bissen. So gut hatte ihm noch nie etwas geschmeckt.
    »Ich hatte früher auch so einen Appetit wie du«, sagte der alte Mann. »Aber jetzt nicht mehr. Wenn ich jeden Tag so ungefähr ein Dutzend Mahlzeiten zu mir nehme, genügt mir das in der Regel.«
    »Ungefähr ein Dutzend Mahlzeiten?«, fragte der Junge erstaunt. »Zu Hause essen wir immer nur dreimal. Frühstück, Mittagessen, Abendessen.«
    »Ach, du meine Güte«, sagte der alte Mann. »Das klingt aber gar nicht gut. Kann deine Frau denn nicht kochen?«
    »Meine Frau?« Noah musste lachen. »Aber ich habe doch keine Frau.«
    »Nein? Und warum nicht? Du bist doch ein ganz sympathischer Kerl. Und du riechst nicht schlecht«, fügte er hinzu, beugte sich vor und schnupperte. »Das heißt, hm, na ja –«
    »Aber ich bin doch erst acht«, protestierte Noah. »Mit acht kann man noch nicht heiraten. Und ich will ja auch gar nicht heiraten.«
    »Wirklich nicht?«, fragte der alte Mann. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
    Noah überlegte. »Na ja, vielleicht heirate ich, wenn ich ganz alt bin«, sagte er nach einer Weile. »Also ungefähr mit fünfundzwanzig. In meiner Klasse ist ein Mädchen, sie heißt Sarah Skinny und ist die Nummer vier auf meiner Freundschaftsliste. Ich vermute, dass wir irgendwann mal heiraten, aber das dauert noch.« Er schaute sich um. Wie klein die Küche war! Sicher war sie nur für eine Person gedacht. »Und Sie?«, fragte er dann. »Sind Sie verheiratet?«
    »Oh, nein!« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nie die Richtige gefunden.«
    »Heißt das, Sie leben allein?«
    »Ja. Aber ich habe jede Menge Gesellschaft. Zum Beispiel Alexander und Henry: Die hast du ja schon kennengelernt.«
    »Die Uhr und die Tür?«, fragte Noah.
    »Ja, genau. Aber da sind noch andere. Viele andere. Ich habe den Überblick verloren. Und dann habe ich natürlich noch meine Marionetten.«
    Noah nickte und aß weiter. »Schmeckt sehr gut«, verkündete er mit vollem Mund. »Entschuldigung«, fügte er kichernd hinzu.
    »Ist schon in Ordnung«, sagte der alte Mann. Er hielt sein Stück Holz hoch, pustete den Staub fort und musterte sein Werk kritisch. Er schien zufrieden zu sein mit dem, was er sah, und machte weiter. Sein Messer machte überlegte, exakte Schnitte in das Holz. »Es gibt nichts Schöneres, als einem hungrigen Jungen beim Essen zuzuschauen«, erklärte er. »Du hast also keine Ehefrau. Ich nehme an, du lebst auch allein, so wie ich?«
    Noah schüttelte den Kopf. »Nein, ich lebe bei meiner Familie«, sagte er, und seine Gabel blieb einen Moment lang in der Luft stehen, während er an zu Hause dachte. »Das heißt, ich habe
bis jetzt
bei meiner Familie gelebt«, verbesserte er sich. »Bevor ich weggegangen bin.«
    »Du wohnst nicht mehr dort?«
    »Nein. Ich bin heute Morgen von zu Hause weggegangen. Ich möchte die Welt sehen und Abenteuer erleben.«
    »Ah – es gibt nichts Besseres als ein gutes Abenteuer!«, rief der alte Mann lächelnd. »Ich wollte einmal nur übers Wochenende nach Holland fahren, aber dann bin ich ein ganzes Jahr lang dort geblieben, weil ich in eine Verschwörung gegen die Regierung verwickelt wurde.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich bei so was mitmachen würde«, sagte Noah, der völlig unpolitisch war.
    »Und deine Eltern waren damit einverstanden, dass du von zu Hause weggehst?«
    Noah schwieg ganz lange, den Blick auf seinen Teller gerichtet, und seine Miene verdüsterte sich immer mehr. Das Essen vor ihm schien auf einmal viel weniger verlockend als gerade eben noch.
    »Du musst mir nichts sagen, wenn du nicht willst«, sagte der alte Mann. »Ich weiß gut, wie das ist, wenn man acht Jahre alt ist, musst du wissen. Schließlich war ich auch mal acht.«
    Darüber musste Noah erst einmal nachdenken. Der Mann war so alt! Komisch, dass er sich noch daran erinnern konnte, wie das war mit acht.
    »Sind Sie auch von zu Hause weggelaufen, als Sie acht waren?«, fragte er, und als er aufblickte, musste er wieder heftig schlucken. Es gab etwas, woran er nicht denken wollte, denn wenn er daran dachte, brachte ihn das völlig durcheinander. Seit er heute Morgen aufgewacht war, hatte er sich bemüht, den Gedanken wegzuschieben. Aber dieser hatte die

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