Der Junge mit dem Herz aus Holz
Sommerbrise zu genießen. »Man lebt nur einmal«, sagte sie, als sie das Verdeck zurückschob.)
»Ich hab’s dir doch gesagt«, erwiderte sie. »An den Strand.«
»Ja, aber ich meine, in echt«, sagte Noah.
»Noah Barleywater«, sagte sie und warf ihm einen kurzen Blick zu, ehe sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Ich hoffe, du denkst nicht, dass ich dich enttäuschen werde. Du hast mir gesagt, du würdest gern ans Meer fahren.«
»Ja«, sagte er. »Aber das Meer ist ein paar hundert Meilen entfernt. Wir fahren jetzt doch nicht ein paar hundert Meilen, oder?«
»O nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, dafür hätte ich gar nicht die Energie. Nein, wir sind in einer Viertelstunde da.«
Und tatsächlich, fünfzehn Minuten später, nachdem sie den Waldbereich verlassen hatten und in Richtung Stadt fuhren, kamen sie zu einem Hotel, das Noah noch nie gesehen hatte, und bogen dort auf den Parkplatz ein. »Sag am besten gar nichts«, sagte Noahs Mutter, als sie die skeptische Miene ihres Sohnes bemerkte. »Vertrau mir einfach.«
Sie gingen hinein, und Mrs Barleywater winkte einer der Empfangsdamen zu, die sofort mit einem strahlenden Lächeln hinter ihrem Tisch hervorkam und ihr einen Schlüssel überreichte.
»Danke, Julie«, sagte Noahs Mama und zwinkerte ihr zu. Noah runzelte überrascht die Stirn. Eigentlich kannte er alle Freundinnen seiner Mutter, aber diese Julie hatte er noch nie gesehen. Stumm folgte er seiner Mutter, als sie weiterging, und drehte sich nur noch einmal kurz zu der Rezeptionistin um, die jetzt neben einer Kollegin stand und ihnen nachschaute, den Kopf schüttelnd, als wäre sie wegen irgendetwas sehr traurig, und dann tuschelte sie mit ihrer Freundin, der vor Entsetzen der Mund offen stehen blieb, als hätte ihr gerade jemand ein fürchterliches Geheimnis anvertraut.
Seine Mutter nahm ihn an der Hand, während sie den Flur entlanggingen. »Dort hinten«, sagte sie. »Und hiermit runter. Möchtest du den Knopf drücken?«
Seufzend schüttelte Noah den Kopf und murmelte: »Du weißt doch, dass ich acht bin, oder?« Als er noch jünger war, wollte er nämlich im Fahrstuhl immer die Knöpfe drücken. »Ich bin nicht mehr sieben. Aber trotzdem, irgendjemand muss den Knopf ja drücken, nehme ich an.«
»U«, sagte seine Mutter, und er drückte den Knopf, auf dem
U
stand. Die Tür schloss sich, und der Lift bewegte sich mit lautem Knarren und Quietschen langsam nach unten.
»Wo gehen wir hin?«, fragte er nach einer Weile.
»Wir machen was ganz Tolles«, sagte seine Mutter.
Als sich die Türen wieder öffneten, gingen sie einen anderen Gang entlang, und Mrs Barleywater öffnete die Tür zu einer leeren Umkleidekabine. »Hier kannst du dich umziehen«, sagte sie. »Ich bin in der Kabine nebenan. Beeilung, Beeilung! In exakt fünf Minuten treffen wir uns hier draußen wieder.«
Noah nickte und machte, was sie gesagt hatte. Fünf Minuten später gingen sie wieder einen Flur entlang, bis seine Mutter schließlich vor einer Tür stehen blieb und ihn lächelnd anschaute. »Es tut mir so leid, dass wir dieses Jahr nicht ans Meer fahren können«, sagte sie. »Aber ich wollte nicht, dass du nur meinetwegen zu kurz kommst.«
»Was meinst du mit
nur deinetwegen
?«, fragte er, aber statt zu antworten, schloss sie mit dem Schlüssel, den sie an der Rezeption bekommen hatte, die Tür auf, und sie betraten die Schwimmhalle des Hotels. Noah war schon öfter in Schwimmbädern gewesen, aber noch nie unter solchen Bedingungen. Erstens war außer ihnen kein Mensch da, was in solchen Hotels die absolute Ausnahme war. Normalerweise platschten lauter Männer mittleren Alters im Wasser herum, wie dicke Wale, die ihre Bahnen zogen. Oder kleine Kinder sprangen quiekend am niedrigen Ende ins Wasser und hatten Angst, sie könnten den Boden unter den Füßen verlieren. Aber jetzt waren sie nur zu zweit, nur Noah und seine Mama.
Das war schon nicht normal, aber noch viel verblüffender war, wie das Schwimmbad aussah. Ein halbes Dutzend Sandhaufen waren angekarrt worden und bildeten eine Art Dünenlandschaft. Es sah zwar nicht aus wie ein echter Strand, aber besser hätte man es kaum machen können. Noah blieb vor Staunen der Mund offen stehen, und er schaute seine Mutter verwundert an.
Abb. 6 Ein SCHWIMMBECKEN mit einem SANDHAUFEN am Ende
»Klar, es ist nicht so gut wie das echte Meer«, gab sie zu. »Aber wir haben die ganze Halle für uns und können so tun, als wären wir am Strand,
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