Der Junge mit dem Herz aus Holz
ihren Teller weg. »Ich kann einfach nicht kochen, stimmt’s?«
»Du machst leckere Tomatensuppe«, sagte Noah, und das meinte er ehrlich.
»Stimmt«, sagte seine Mutter. »Ich bin sehr gut im Dosenöffnen. Aber meine Fischpastete ist keine Offenbarung.«
»Der Fairness halber muss man sagen, dass der Hund bestimmt nichts dagegen einzuwenden hätte«, sagte Noahs Vater. »Nur haben wir leider keinen Hund.«
»Kommt mit – wir gehen essen«, verkündete seine Mutter, stand auf und räumte den Tisch ab. »Und du kannst bestellen, was du willst, Noah.«
Noah strahlte. Eine Sekunde lang vergaß er seine Enttäuschung wegen der Nichtferien und sprang auf, aber genau im selben Moment ließ seine Mutter die Teller fallen, die sie wegtragen wollte, und alle drei Teller landeten auf dem Boden, wo sich Kartoffeln, Garnelen, Kabeljau, Erbsen und die übrigen glitschigen Zutaten malerisch verteilten. Noah zuckte zusammen, weil er erwartete, gleich würde sie sagen, sie sei so schrecklich ungeschickt und schusselig und ständig würde ihr alles aus den Hand rutschen, aber stattdessen lehnte sie sich an die Anrichte, die Hand in den Rücken gepresst, und stöhnte leise, ein ganz komisches, schreckliches Geräusch, ein herzzerreißendes Wimmern, das Noah noch nie von ihr gehört hatte. Sein Vater sprang sofort hoch und rannte zu ihr, und Noah wollte ebenfalls zu ihr, aber das ging nicht, denn er hätte über die Fischpampe auf dem Fußboden springen müssen, und er war sich nicht sicher, ob er das schaffen würde, ohne vorher Anlauf zu nehmen.
»Geh hinauf in dein Zimmer, Noah«, sagte sein Vater, ehe er springen konnte.
»Was ist mit Mama?«
»Geh hinauf in dein Zimmer!«, wiederholte sein Vater, diesmal etwas lauter, und er klang so ernst, dass Noah sofort gehorchte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was wirklich los sein könnte.
Und damit war die Sache bis auf weiteres erledigt.
Doch dann, eine Woche später – an dem Tag, an dem sie eigentlich zu Tante Joan gefahren wären, wenn sich der Plan nicht geändert hätte –, stand er vor dem Spiegel in seinem Zimmer und überprüfte seine Muskeln, als seine Mutter hereinkam. Sie war ein paar Tage krank gewesen und hatte im Bett gelegen, aber jetzt schien es ihr wieder besserzugehen, und am Tag vorher war sie die ganze Zeit weg gewesen, auf einer Geheimmission, wie sie sagte, von der er bald erfahren würde. »Da bist du ja!«, sagte sie und strahlte ihn an. »Was hältst du davon, wenn wir heute einen Ausflug machen?«
»Super!«, rief Noah und legte das Maßband weg, notierte aber vorher noch das Ergebnis in sein Heft mit den neuesten Messungen. »Wohin diesmal? Wieder in das Flipper-Café?«
»Nein, ich habe einen viel besseren Plan«, sagte sie. »Weil wir nicht ans Meer fahren können, habe ich gedacht, wir holen das Meer zu uns hierher. Wie findest du das?«
Noah schüttelte seufzend den Kopf. »Wir wohnen am Waldrand, Mutter«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass es hier in der Nähe irgendwo einen Strand gibt.«
»Wenn du glaubst, ich lasse mich von so einer Kleinigkeit abhalten, dann kennst du mich aber schlecht«, sagte sie, streckte ihm die Zunge raus und zog eine Grimasse. »Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich die tollste Mutter der Welt bin, oder?« Noah nickte, sagte aber nichts.
»Also gut«, fuhr seine Mama fort und klatschte zweimal ganz schnell in die Hände, wie jemand in einer Fernsehsendung, der gleich einen Zaubertrick vorführt. »Hol deine Badehose und ein Handtuch. Ich erwarte dich unten – in fünf Minuten.«
Noah machte, was sie gesagt hatte. Was hatte sie sich wohl diesmal ausgedacht? Das war schon das zweite Mal, dass sie ihn ganz plötzlich und unerwartet auf einen Ausflug mitnahm. Das erste Mal, im Flipper-Café, hatte es ihm gut gefallen, und so wie’s aussah, erwartete ihn heute sogar noch etwas Besseres. Solche Überraschungsaktionen hatte seine Mutter sonst nie gemacht, aber jetzt schien es auf einmal Mode zu werden, aus heiterem Himmel. Allerdings konnte Noah sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie den Strand an den Waldrand holen wollte. Seine Mutter hatte viele wunderbare Eigenschaften, aber zaubern konnte sie nicht.
»Wohin gehen wir?«, fragte er, als sie im Auto saßen, ausnahmsweise mit offenem Verdeck. (Sonst sagte Mrs Barleywater immer, sie wolle das Verdeck nicht öffnen, weil sie sich erkälten könnte, aber jetzt machte sie sich deswegen offenbar keine Sorgen, sondern schien die frische
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