Der Junge mit dem Herz aus Holz
stimmt’s? Noch ein Mal Ferien am Meer, sozusagen. Machen wir das Beste draus, einverstanden?«
»Noch ein Mal?«, fragte Noah. »Aber das stimmt doch nicht! Wir können nächstes Jahr an Ostern wieder zu Tante Joan fahren. Oder irgendwann später im Sommer dieses Jahr.«
Mrs Barleywater öffnete den Mund, um etwas zu antworten, aber irgendwie brauchte sie furchtbar lang, um die richtigen Worte zu finden. Schließlich schluckte sie stumm, beugte sich zu Noah hinunter und drückte ihn so fest an sich, dass er dachte, sie sei verrückt geworden.
»Was ist denn los?«, fragte er beunruhigt und befreite sich aus ihrer Umarmung. »Warum bist du so komisch?«
»Ich? Komisch?« Seine Mutter räusperte sich und drehte sich weg. »Ich weiß nicht, was du meinst. Und jetzt – wollen wir um die Wette schwimmen?«, fragte sie und trat an den Beckenrand. »Wer zuerst auf der anderen Seite ist!«
Und schon sprangen sie beide ins Wasser und kamen fast gleichzeitig auf der anderen Seite an, aber sie einigten sich darauf, dass Noahs Mama mit knappem Vorsprung gewonnen hatte. Aber es war den ganzen Nachmittag über das einzige Wettschwimmen, das sie gewann, denn Noah war ein erstklassiger Schwimmer, und seine Mutter wurde schnell müde. Dann bauten sie Sandburgen und schwammen noch mehr, und genau im richtigen Moment wurden von einem jungen Hotelangestellten, der von der ganzen Situation völlig unbeeindruckt schien, Sandwiches und Getränke serviert.
»Und?«, fragte Noahs Mutter und warf ein paar Sandkörner auf sein Sandwich, damit es noch mehr nach Ferien am Strand schmeckte. »Gefällt es dir?«
Noah nickte schnell und strahlte seine Mama an. Aber was war mit ihren Augen los? Vielleicht reagierte sie allergisch auf das Chlor im Wasser, denn ihre Augen waren rot gerändert, als hätte sie geweint, während sie im Wasser war. Er wollte ihr sagen, dass sie im Wasser eine Taucherbrille aufsetzen musste, aber sein Mund war voller Eiersandwich, so dass er kein Wort herausgebracht hätte, ohne sie anzuspucken, und einen Moment später, als sein Mund nicht mehr voll war, hatte er es schon wieder vergessen.
»Wir müssen solche Tage richtig genießen, Noah«, sagte seine Mama leise und versuchte wieder, ihn an sich zu ziehen, aber dieses Mal rutschte er weg, weil ihr Badeanzug so nass war, und er sprang lieber ins Wasser, um noch eine Runde zu schwimmen. Die neue Seite an seiner Mutter gefiel ihm, diese Überraschungsausflüge. Es kam ihm fast so vor, als wäre sie ein anderer Mensch.
Kapitel 12 Noah und der alte Mann
»Na, so was«, sagte der alte Mann und legte sein Schnitzmesser weg. »Ich habe im Laufe meines Lebens schon einiges gehört, aber dass eine Mutter ein Schwimmbad in einen Strand verwandelt, das ist mal was anderes. Wie ungewöhnlich!«
»Ich habe Ihnen ja gesagt, sie war immer für eine Überraschung gut«, erwiderte Noah.
»Ja, das hast du gesagt. Aber ich glaube, dadurch frage ich mich jetzt erst recht, warum du vor ihr wegläufst.«
Noah überlegte. »Tja, also – ich will hinaus in die Welt und große Abenteuer erleben«, erklärte er. »Ich finde, ich muss nicht mehr in die Schule gehen. Ich bin sehr klug. Ich bin der Siebtklügste in meiner Klasse.«
»Und wie viele Kinder seid ihr in der Klasse?«
»Dreißig.« Noah klang sehr zufrieden mit sich.
»Ja, das will schon was heißen, denke ich«, sagte der alte Mann leise. »Aber auch Abenteurer müssen etwas lernen. Und selbst
große
Abenteurer gehen gern ab und zu nach Hause.«
»Vielleicht gehe ich ja eines Tages wieder nach Hause«, sagte Noah nach kurzem Überlegen. »Wenn ich erwachsen bin, meine ich. Und wenn ich ein Vermögen gemacht habe.« Er stand auf und ging zum Kamin, nahm ein Bild in die Hand und betrachtete es aufmerksam. »Ist das Ihr Vater?«, fragte er.
»Ja, es ist eine Zeichnung, die ich von ihm gemacht habe, als ich noch ein Junge war«, antwortete der alte Mann. »Ich habe es da hingestellt, damit ich nicht vergesse, wie er ausgesehen hat.«
»Sieht es ihm ähnlich?«
»Nein, eigentlich nicht«, gab der alte Mann zu. »Aber die Augenpartie habe ich gut getroffen, finde ich. Im Grunde brauche ich das Bild ja gar nicht. Ich habe das Gefühl, dass er die ganze Zeit hier ist.«
Noah war verdutzt. »Hier?«, fragte er. »Im Spielzeugladen?«
»Nicht körperlich, versteht sich«, sagte der alte Mann. »Aber alles hier erinnert mich an ihn. Er gehört hierher. Es macht mich froh, wenn ich an ihn denke.«
Ohne ein Wort zu
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