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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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Hörspielfassung im Radio, jede Woche eine halbstündige Episode. Er hat sein eigenes Exemplar der Schatzinsel; aber er hat sie gelesen, als er noch zu klein war und die Sache mit dem Blinden und dem schwarzen Fleck nicht verstehen konnte, nicht herausfinden konnte, ob Long John Silver gut oder böse war. Jetzt hat er nach jeder Radiofolge Alpträume, die sich um Long John drehen – um die Krücke, mit der er Menschen umbringt, seine falsche, sentimentale Besorgtheit um Jim Hawkins. Er wünscht sich, Squire Trelawny würde Long John töten, anstatt ihn ziehen zu lassen – er ist gewiß, daß er eines Tages mit seinen halsabschneiderischen Meuterern zurückkommen wird, um Rache zu nehmen, so wie es in seinen Träumen geschieht.
       Die Schweizer Familie Robinson ist viel tröstlicher. Er hat eine hübsche Ausgabe des Buches mit farbigen Illustrationen.
      Besonders gefällt ihm das Bild von dem Schiff, wie es unter den Bäumen auf Stapel liegt. Das Schiff, gebaut mit Werkzeugen, die von der Familie aus dem Wrack geborgen wurden, soll sie mit allen ihren Tieren wieder nach Hause bringen, wie Noahs Arche. Es ist ein Vergnügen, als gleite man in ein warmes Bad, wenn man die Schatzinsel hinter sich läßt und die Welt der Schweizer Familie betritt. In der Schweizer Familie gibt es keine bösen Brüder, keine mörderischen Piraten; in ihrer Familie arbeiten alle vergnügt zusammen unter der Leitung eines klugen, starken Vaters (die Bilder zeigen ihn mit gewölbtem Brustkasten und langem kastanienbraunen Bart), der von Anfang an weiß, was zu tun ist, um sie zu retten. Er fragt sich nur, warum müssen sie, wenn sie es so gemütlich haben auf der Insel und glücklich sind, überhaupt weg von dort.
      Er besitzt noch ein drittes Buch, Scott von der Antarktis. Captain Scott ist einer seiner unbestrittenen Helden – deshalb hat er das Buch geschenkt bekommen. Es enthält Fotos, darunter eins von Scott, wie er in dem Zelt sitzt und schreibt, in dem er später erfroren ist. Er schaut sich die Fotos oft an, aber mit dem Lesen kommt er nicht weit – das Buch ist langweilig, es erzählt keine Geschichte. Ihm gefällt nur das Stück über Titus Oates, den Mann mit den Erfrierungen, der in die Nacht hinausging, weil er seine Kameraden nicht aufhalten wollte. Er ging hinaus in Schnee und Eis und kam um, still, ohne Aufsehen. Er hofft, daß er eines Tages Titus Oates gleichen kann.
      Einmal im Jahr kommt der Zirkus Boswell nach Worcester. Alle in seiner Klasse gehen hin; eine Woche lang ist nur vom Zirkus die Rede und von nichts sonst. Sogar die farbigen Kinder gehen hin, auf ihre Art – sie drücken sich stundenlang draußen vor dem Zelt herum, hören der Band zu, linsen durch Ritzen.
      Sie nehmen sich vor, am Samstagnachmittag zu gehen, wenn der Vater Cricket spielt. Die Mutter macht es zu einem Ausflug für sie drei. Doch an der Kasse hört sie erschrocken von den hohen Samstagnachmittags-Preisen: zwei Pfund sechs Shilling für Kinder, fünf Pfund für Erwachsene. Sie hat nicht genug Geld dabei. Sie kauft Eintrittskarten für ihn und seinen Bruder. »Geht rein, ich warte hier«, sagt sie. Er mag nicht, doch sie besteht darauf.
      Drinnen im Zelt ist er unglücklich, hat an nichts Spaß; er vermutet, daß es seinem Bruder auch so geht. Als sie nach Ende der Vorstellung herauskommen, ist sie noch da. Selbst Tage danach wird er den Gedanken daran nicht los: Wie die Mutter geduldig in der glühenden Dezemberhitze wartet, während er im Zirkuszelt sitzt und königlich unterhalten wird.
      Ihre blinde, überwältigende, aufopfernde Liebe für sie beide, ihn und seinen Bruder, doch für ihn besonders, beunruhigt ihn.
      Er wünschte, sie würde ihn nicht so lieben. Sie liebt ihn bedingungslos, daher muß er sie auch bedingungslos lieben – das ist die Logik, die sie ihm aufzwingt. Es wird ihm nie gelingen, all die Liebe, mit der sie ihn überschüttet, zurückzugeben. Der Gedanke an ein Leben, gebeugt unter der Schuldenlast von Liebe, irritiert ihn und macht ihn so wütend, daß er sie nicht küssen will, sich nicht von ihr anfassen läßt.
      Wenn sie sich schweigend und verletzt abwendet, verhärtet er ganz bewußt sein Herz gegen sie und weigert sich, nachzugeben.
      Manchmal, wenn sie verbittert ist, führt sie lange Selbstgespräche, vergleicht ihr Leben in der trostlosen Siedlung mit dem Leben, das sie vor ihrer Ehe geführt hat und das sie als ununterbrochene Folge von Partys und Picknicks schildert, von
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