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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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Wochenendbesuchen auf Farmen, von Tennis und Golf und Spaziergängen mit ihren Hunden. Sie spricht mit flüsternder Stimme, bei der nur die Zischlaute hervortreten; er und sein Bruder in ihren Zimmern spitzen die Ohren, und sie muß das wissen. Das ist noch ein Grund, warum der Vater sie eine Hexe nennt – weil sie Selbstgespräche führt und Beschwörungen ausstößt.
      Das idyllische Leben in West-Viktoria wird durch Fotos aus den Alben bestätigt: seine Mutter, die mit anderen Frauen in langen weißen Kleidern mit Tennisschlägern an einem Ort herumsteht, der aussieht, als befände er sich mitten im Veld, seine Mutter mit dem Arm um den Hals eines Hundes, eines Schäferhundes.
      »War das dein Hund?« fragt er.
      »Das ist Kim. Er war der beste, treuste Hund, den ich je gehabt habe.«
      »Was ist mit ihm geschehen?«
      »Er hat vergiftetes Fleisch gefressen, das die Farmer für die Schakale ausgelegt hatten. Er starb in meinen Armen.«
      In ihren Augen stehen Tränen.
      Nachdem sein Vater in dem Album auftaucht, gibt es keine Hunde mehr. Dafür sieht er sie beide bei Picknicks mit Freunden jener Tage oder seinen Vater mit dem flotten Schnurrbärtchen und dem kecken Blick, wie er an der Motorhaube eines altmodischen schwarzen Autos lehnt. Dann kommen die Bilder von ihm selbst, Dutzende davon, angefangen mit dem Bild eines ausdruckslosen, pausbäckigen Babys, das von einer dunklen Frau mit eindringlichem Blick der Kamera entgegengestreckt wird.
      Auf allen diesen Fotos, sogar auf denen mit dem Baby, wirkt seine Mutter mädchenhaft auf ihn. Ihr Alter ist ein Geheimnis, das ihn unaufhörlich fesselt. Sie will es ihm nicht verraten, sein Vater gibt vor, es nicht zu wissen, sogar ihre Geschwister scheinen Verschwiegenheit gelobt zu haben. Während ihrer Abwesenheit durchsucht er die Papiere im untersten Fach ihrer Frisierkommode und hält Ausschau nach einer Geburtsurkunde, doch ohne Erfolg. Durch eine Bemerkung, die ihr entschlüpft ist, weiß er, daß sie älter ist als der Vater, der 1912 geboren wurde; doch wieviel älter? Er legt 1910 als ihr Geburtsjahr fest. Das heißt, sie war dreißig, als er geboren wurde, und ist jetzt vierzig. »Du bist vierzig!« sagt er ihr eines Tages triumphierend und lauert auf Zeichen, daß er recht hat.
      Sie lächelt geheimnisvoll. »Ich bin achtundzwanzig«, sagt sie.
      Sie haben am gleichen Tag Geburtstag. An ihrem Geburtstag wurde er geboren. Das bedeutet, wie sie ihm gesagt hat, wie sie jedem sagt, daß er ein Geschenk Gottes ist.
      Er nennt sie nicht Mutter oder Mama, sondern Dinny. Auch der Vater und sein Bruder nennen sie so. Woher kommt dieser Name? Keiner scheint es zu wissen; aber ihre Geschwister nennen sie Vera, deshalb kann er nicht aus der Kindheit stammen. Er muß aufpassen, damit er sie nicht vor Fremden Dinny nennt, wie er sich auch hüten muß, seine Tante und seinen Onkel einfach nur Norman und Ellen zu nennen, statt Onkel Norman und Tante Ellen. Doch wenn er wie ein gutes, gehorsames, normales Kind Onkel und Tante sagt, ist das nichts, verglichen mit den Umständlichkeiten von Afrikaans.
      Afrikaaner haben Angst, einen Älteren mit du anzureden. Er äfft die Sprache seines Vaters nach: »Mammie moet ‘n kombers oor Mammie se kniee trek anders word Mammie kond« – Mami muß eine Decke über Mamis Knie legen, sonst wird es Mami kalt. Er ist froh, daß er kein Afrikaaner ist und nicht so reden muß wie ein ausgepeitschter Sklave.
     
    Seine Mutter beschließt, einen Hund anzuschaffen. Schäferhunde sind die besten – die klügsten, die treusten Hunde, aber sie finden keinen Schäferhund, den sie kaufen können. Sie entscheiden sich also für einen Welpen, halb Dobermann, halb sonst was. Er besteht darauf, daß er ihm einen Namen geben kann. Er würde ihn gern Barsoi nennen, weil er ihn zum russischen Hund machen will, aber weil es kein echter Barsoi ist, nennt er ihn Kosak. Keiner versteht das.
      Die Leute denken, er hieße kossak, Brotbeutel, was sie komisch finden.
      Kosak entpuppt sich als verstörter, undisziplinierter Hund, der sich in der Nachbarschaft herumtreibt, Gärten zerwühlt, Hühner jagt. Eines Tages läuft ihm der Hund bis zur Schule hinterher. Nichts, was er versucht, kann ihn davon abhalten: wenn er schreit und Steine wirft, läßt der Hund die Ohren hängen, kneift den Schwanz ein und schleicht sich fort; doch sobald er das Fahrrad wieder besteigt, läuft er ihm erneut hinterher. Schließlich muß er ihn am Halsband
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