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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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an der Geschichte nichts Besonderes. Aber sie sind nicht bloß zwei Männer, sie sind große Helden, ihre Namen haben einen legendären Klang. Er ist froh, als Wardle zum Ende der Spielzeit aus der englischen Cricket-Mannschaft ausscheidet.
      Wardle bowlt natürlich mit einem Lederball. Er kennt sich mit dem Lederball nicht aus; er und seine Freunde spielen mit einem sogenannten Korkball aus einer harten grauen Masse, der die Steine, von denen die Säume eines Lederballes zerfetzt werden, nichts anhaben können. Als er hinter dem Netz steht und Wardle zuschaut, hört er zum ersten Mal das seltsame Pfeifen eines Lederballs, der durch die Luft fliegt, auf den Schlagmann zu.
      Dann bekommt er seine erste Chance, auf einem richtigen Cricketfeld zu spielen. Ein Match zwischen zwei Mannschaften der Grundschule wird für einen Mittwochnachmittag anberaumt. Richtiges Cricket bedeutet richtige Tore oder Wickets, ein richtiges Spielfeld, und man muß nicht darum kämpfen, daß man als Schlagmann drankommt.
      Er ist an der Reihe. Ein Polster am linken Bein, das Schlagholz seines Vaters in der Hand, das viel zu schwer für ihn ist, geht er hinaus zur Spielfeldmitte. Er wundert sich, wie groß das Feld ist. Es ist ein großartiger und einsamer Ort – die Zuschauer sind so weit weg, daß sie ebensogut nicht vorhanden sein könnten.
      Er nimmt seine Position auf dem gewalzten Streifen mit einer darübergebreiteten grünen Kokosmatte ein und erwartet den Ball. Das ist Cricket. Man bezeichnet es als Spiel, doch für ihn ist es wirklicher als sein Zuhause, wirklicher sogar als die Schule. Bei diesem Spiel gibt es keine Mogelei, keine Gnade, keine zweite Chance. Diese anderen Jungen, deren Namen er nicht kennt, sind alle gegen ihn. Sie sind sich nur einig darin, ihm den Spaß am Spiel sobald wie möglich zu nehmen. Wenn er ausgeschieden ist, werden sie nicht ein Fünkchen Bedauern spüren. In der Mitte dieser riesigen Arena muß er sich bewähren, einer gegen elf, und keiner beschützt ihn.
      Die Feldspieler stellen sich auf. Er muß sich konzentrieren, doch etwas irritiert ihn und geht ihm nicht aus dem Sinn: Zenos Paradox. Ehe der Pfeil sein Ziel erreicht, muß er die Hälfte der Strecke bewältigen; ehe er die Hälfte bewältigt, muß er ein Viertel der Strecke bewältigen; ehe er ein Viertel bewältigt… Verzweifelt versucht er, nicht mehr daran zu denken; doch die bloße Tatsache, daß er nicht mehr daran zu denken versucht, regt ihn noch mehr auf.
      Der Werfer nimmt Anlauf. Die letzten beiden Schritte hört er besonders deutlich. Es folgt eine Pause, in der nichts als das unheimliche Zischen des Balles zu vernehmen ist, der auf ihn zugeflogen kommt. Hat er sich dafür entschieden, als er sich fürs Cricketspiel entschieden hat: immer und immer wieder auf die Probe gestellt zu werden, bis er versagt? Auf die Probe gestellt von einem Ball, der unpersönlich, gleichgültig, erbarmungslos auf ihn zu kommt und nach der Lücke in seiner Verteidigung sucht, und das schneller, als er denkt, zu schnell, als daß er seine Verwirrung loswerden, sich konzentrieren und richtig entscheiden könnte, was zu tun sei. Und mitten in diesen Gedankengängen, mitten in dieser Kopflosigkeit ist der Ball da.
      Er macht zwei Läufe, schlägt in einem Zustand der Konfusion, und später der Verzweiflung. Das Spiel entläßt ihn mit noch weniger Verständnis für die selbstverständliche Art von Johnny Wardle, zu spielen und dabei die ganze Zeit über zu schwatzen und zu scherzen. Ist das auch die Art der anderen berühmten englischen Cricketer: Len Hutton, Alec Bedser, Denis Compton, Cyril Washbrook? Er kann das nicht glauben.
      Das wahre Cricket kann man nur schweigend spielen, glaubt er, schweigend und erwartungsvoll, mit klopfendem Herzen und trockenem Mund.
      Cricket ist kein Spiel. Es ist das Leben, wie es wirklich ist.
      Wenn es, wie die Bücher behaupten, eine Charakterprobe ist, dann ist es eine Probe, von der er nicht weiß, wie er sie bestehen soll, doch auch nicht, wie er sie umgehen kann. Am Wicket wird das Geheimnis, das er sonst bewahren kann, gnadenlos untersucht und aufgedeckt. »Laß sehen, woraus du gemacht bist«, sagt der Ball, als er pfeifend durch die Luft auf ihn zu fliegt. Blindlings, kopflos, schlägt er das Schlagholz nach vorn, zu früh oder zu spät. Am Schlagholz und an den Beinpolstern vorbei findet der Ball seinen Weg. Er ist ausgeschieden, er hat die Probe nicht bestanden, man hat ihn bloßgestellt, ihm
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