Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Schiff, das uns nach Barcelona bringen sollte, von wo wir mit dem Bus in ein Dorf am Fuße der Pyrenäen weiterfahren würden.
Wir waren von Sehenswürdigkeiten gesättigt: eine gotische Kathedrale, eine Kirche aus dem dreizehnten Jahrhundert, ein Maurenpalast, den wir in Palma besichtigt hatten, und überall, wo wir waren, Sonnenschein und Wein. Das alles hatte uns beinahe geschafft, und wir gaben uns der Illusion hin, daß ein anderes Leben möglich wäre.
Warum nicht für immer an jenem Strand bleiben? Aber dann erinnerten wir uns an eine junge Frau und ihr kleines Kind auf den Straßen von Palma, beide von einem durchsichtigen schwarzen Schal verhüllt; mit einer Hand hielt sie den Säugling, die andere streckte sie zum Betteln aus. Das war die wahrscheinlichere Alternative zu unserem Traum vom anderen Leben.
Wir erreichten das Grenzdorf im Vorgebirge der Pyrenäen am frühen Nachmittag. Marjorie hatte noch genug spanisches Geld, um ein Taxi bis zur Grenze zu bezahlen, doch das einzige Gefährt des Dorfes war schon von vier oder fünf Engländern mit Beschlag belegt worden. Sie boten uns an, uns ebenfalls in das als Taxi fungierende Autofossil zu quetschen, machten dabei dumme Scherze und lachten – britische Witzbolde, dachte ich. Aber wir gingen lieber zu Fuß, besser gesagt: kletterten den Berg hinauf. Ein Soldat des örtlichen Armeepostens diente uns als Führer, ein Sechzehnjähriger mit finsterem Gesicht und einem SS-Mantel, dessen lange Schöße ihn beim Gehen behinderten. Deutsche Uniformen waren damals in Spanien noch sehr in Mode.
Meist sahen wir nur seinen Rücken, als er uns auf dem schmalen Ziegenpfad führte, der sich in Serpentinen immer höher hinaufwand. Es war ein schwerer Aufstieg, obwohl wir alle drei jung und kräftig und zwei von uns auch voller Tatendrang waren.
Wir umrundeten einen moosbewachsenen Felsblock. Etwa fünfzig Meter über uns standen die Engländer auf einem Felsvorsprung neben dem uralten Taxifahrer, der die Peseten zählte, die sie ihm bezahlt hatten. Sie feuerten uns an und hielten uns Schokoladentafeln hin. «Erstklassige Vorstellung!» hörte ich einen von ihnen sagen, als wir näher kamen.
Die Grenze wurde von einem dünnen Metallseil markiert, das über die schmale Straße gespannt war. Auf der anderen Seite des Drahtes warteten zwei französische Taxis; die Engländer winkten uns zu und zwängten sich in das eine, Marjorie und ich nahmen das andere.
Vor dem Schuppen, in dem das Zollamt untergebracht war, verabschiedeten wir uns voneinander: Sie wollte noch eine Woche in Südfrankreich verbringen, ich nach Paris weiterreisen. Ein Bus nach Osten und ein Zug nach Norden warteten nur wenige Meter vom Schuppen entfernt.
Marjorie kam ohne Probleme durch den Zoll und winkte mir aus dem Bus zu, bevor die Gangschaltung laut knirschte und sie meinen Blicken entschwand. Dann war ich an der Reihe, den Schuppen zu betreten.
Eine kräftige Frau in Uniform forderte mich auf, mich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Ihr Gesicht zeigte keinen erkennbaren Ausdruck; sie handelte mit bürokratischer Gleichgültigkeit, einer Art unpersönlicher Brutalität. Sie durchsuchte mich und zeigte dann auf eine andere Tür des Schuppens. Ich zog mich an und ging hinaus, nach Frankreich.
Ich verbrachte eine Nacht in einem billigen Pariser Hotel. Der Innenhof war mit Glas überdacht. Aus dem Fenster sah ich, daß er mit gebrauchten Kondomen übersät war. Morgens stieg ich in den Zug nach Calais, wo ein amerikanischer Frachter am Kai lag, der sieben oder acht Passagiere beförderte. Einer davon war ich.
Als ich die Küste Europas zurückweichen sah, als sie eine verschwommene Linie, dann nur noch Meer wurde, schluchzte ich auf. Ich stand achtern an der Reling und versuchte krampfhaft, ein Stück europäischer Welt festzuhalten. Was wollte ich? Mein früheres Leben in Amerika ungeschehen machen? Ich hatte Angst vor der Vergangenheit, Angst auch vor der Zukunft.
Ich hätte bleiben können; man hatte mir in Frankreich, in England, in Warschau Arbeit angeboten. Warum hatte ich nicht eines der Angebote angenommen? Doch irgendwas in mir sträubte sich dagegen, ins Exil zu gehen. Vielleicht zog es mich, wie mein Vater einmal bemerkte, immer an die Orte zurück, an denen ich schon einmal gewesen war.
Ein heftiger Sturm in den «Wilden Vierzigern», wie ein Schiffsoffizier diesen Teil des Atlantiks nannte, hielt uns drei Tage lang auf. Wir drehten bei; der Koch konnte uns Passagiere wegen
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