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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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seiner Schreibtischkante und lauschte nachsichtig, während ich ihm zu erklären versuchte, was einen vollständigen Satz ausmacht, aber er dachte an etwas anderes.
    Jemand hatte mir mitgeteilt, daß Frank ein Soziopath sei, doch es fiel mir äußerst schwer, diesen Begriff mit dem Jungen in Verbindung zu bringen. Besonders liebte er das Gespräch am Ende meiner Abende in Sleepy Hollow, wenn die Übungen in Rechnen, Rechtschreibung oder Aufsatzschreiben erledigt waren: die Geschichten, die Witze, die wir machten, die Wellen gesprochener Erinnerung.
    Wütend sah ich ihn nur einmal. An die Kinder der Einrichtung, die Schulen außerhalb besuchten – darunter auch er –, wurden besondere Essensmarken verteilt, weil es hieß, sie würden das Geld für ihr Mittagessen zu oft für Zigaretten und Süßigkeiten ausgeben. Das taten die Kinder aus dem Viertel genauso, denn damals war es noch leicht, an Tabakwaren zu kommen.
    Frank und die anderen Kinder verweigerten den Schulgang, bis die Verwaltung die Ausgabe der Essensmarken einstellte. Es war schon schlimm genug, als Insassen von Sleepy Hollow bekannt zu sein, aber so deutlich zu Außenseitern gestempelt zu werden wie in dem Augenblick, wo sie an der Cafeteriakasse ihre rotbraune Essensmarke abgeben mußten, war für sie unerträglich. Die Kinder der Nachbarschaft schikanierten und ärgerten sie oft, stellten sich und ihre Lebensumstände – wie kümmerlich sie auch sein mochten – weit über diese Fremden in ihrer Mitte. Eine Form der Grausamkeit, die nicht auf Kinder beschränkt ist.
    Als Frank sieben war, bat er seine Mutter, mit ihm ins Kino zu gehen. Sie sagte, sie habe keine Zeit; sie hatte einen Freund gebeten, sie zum Arzt zu fahren. Frank sagte zu ihr, er wünschte sich, sie wäre tot. Am selben Nachmittag kam sie bei einem Autounfall ums Leben, den der Fahrer, ihr Freund, mit leichten Verletzungen überlebte. Franks Vater hatte die Familie schon einige Jahre zuvor verlassen. Es gab niemanden, der sich um den Jungen kümmern konnte. So begann sein Leben in verschiedenen Institutionen nur wenige Wochen nach dem Tod seiner Mutter.
    Ich weiß nicht, wie tief oder an welcher Stelle seines Gewissens er empfand, daß es eine fatale Verbindung zwischen seinem Wutausbruch, dem Wunsch, seine Mutter möge sterben, und ihrem Tod am selben Tag gab. Ich weiß, daß er litt. Seine Abwesenheit war eine Form des Leidens.
    Eines Abends hing Frank noch am Torhaus herum, wo ich meinen Unterricht abhielt. Er fragte mich, ob ich schon mal an einem Ort wie Sleepy Hollow gearbeitet hätte. Ja, sagte ich, einmal. Dann erzählte ich ihm, ich weiß nicht, warum, von den Kindern der Konzentrationslager, die ich zehn Jahre zuvor in der Hohen Tatra in Polen kennengelernt hatte. Ich sprach kurz über den Holocaust. Wir saßen auf einer Stufe, es war ein klarer Frühlingsabend, die Luft noch ein wenig warm. Die Sterne standen dicht.
    «So was habe ich noch nie gehört», sagte er. Dann fragte er mich, was mit den Kindern in den Bergen passiert sei. Ich sagte, ich wisse es nicht, doch ich nähme an, was mit uns allen passiert – sie würden ihr Leben leben; sie hätten alle den Schrecken der Lager ertragen und überlebt, und jetzt würden sie sicher aus ihrem Leben machen, was sie könnten. Er sah zum Himmel hinauf.
    «Was ist hinter den Sternen?» fragte er. «Was ist außerhalb von allem, was wir sehen?»
    Ich nannte ihm ein paar Sternbilder, die ich zu erkennen glaubte. Obwohl seine Schulnoten schlecht waren, hatte er ohne fremde Hilfe ein Astronomiebuch gelesen. Zweimal verbesserte er meine geratene Sterndeutung. «Aber was, glauben Sie, ist noch viel weiter dahinter?»
    Ich sagte, anscheinend gebe es eine Mauer im Denken, über die niemand hinauskomme, der sich die Unendlichkeit vorzustellen versuchte – ich jedenfalls nicht. «Ich auch nicht», sagte er.
    Wir blieben noch ein paar Minuten sitzen, sagten uns dann gute Nacht und gingen vom Torhaus weg, ich zu meinem Auto, er zu dem kleinen Haus, in dem er noch ein paar Monate leben würde, bevor er wegrannte und man nie wieder von ihm hörte.

    Die Kinder des Wohnheims akzeptierten einen gewissen Grad an Disziplin – macht eure Hausaufgaben, eßt zuerst euer Gemüse und dann den Nachtisch –, auch wenn sie sich lautstark darüber beschwerten. Doch sie konnten es nicht ausstehen, wenn man ihnen erzählen wollte, wer und was sie waren. Sie waren besonders empfindlich gegenüber Fragen, die keine Fragen waren, sondern unverrückbaren,

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