Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
des heftigen Schlingerns und Stampfens nicht mehr regulär versorgen und reichte, wenn es möglich war, Sandwiches und Wassergläser. Ein Offizier vertäute einen Liegestuhl für mich an Deck, als der Sturm sich fast gelegt hatte. Das Salzwasser der Wellen, die sich am Bug brachen, spritzte mich naß und war eine willkommene Ablenkung von den endlosen Gedanken über meine Zukunft. Im Traum war ich nur eine unbedeutende Statistin in meinem eigenen Leben. Ich konnte mir nur Ereignisse vorstellen, über die ich keine Kontrolle hatte.
Eine Deutsche, jung, groß, unförmig gebaut, erzählte mir, wie sie von russischen Soldaten vergewaltigt worden sei, als diese nach Kriegsende Berlin besetzten. Sie redete atemlos und mit heftigem Akzent. Ihre Augen flackerten und wichen meinem Blick aus. Ich war der Überzeugung, daß sie diese Geschichten eingeübt hatte, während sie allein auf ihrer Koje saß, und daß die russischen Soldaten sie nicht angerührt hatten.
Als wir am Kai des New Yorker Hafens anlegten, mußte mich einer der Offiziere die Gangway hinuntergeleiten. Ich konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Europa war für mich eine Befreiung gewesen. Ich wollte das Schiff nicht verlassen.
Ich erinnere mich an eine Anekdote, die mir mein Ehemann Martin erzählt hat. Er war Soldat im Zweiten Weltkrieg. Als er auf dem Strandabschnitt Omaha Beach landete – nicht lange nach der Invasion der Alliierten in der Normandie, die Schrecken des Krieges lagen noch überall im Wasser und am Strand verstreut, es regnete, die Soldaten quälten sich die schlammige, steile Uferböschung zwischen den Schildern, die in verschiedenen Sprachen vor «Minen!» warnten, hinauf – da rief er: «Ich bin in Europa!»
In New York hatte ich ein paar Vorstellungsgespräche und nahm einen Job bei einer PR-Firma an. Und ich fand ein kleines Appartement auf der West Side, mit Küchenzeile und einem Schlafzimmer. Aber ich konnte die Frage nicht vergessen, die der Taxifahrer gestellt hatte, als ich gerade von Bord des Frachters gegangen war.
Ich hatte noch ein paar Dollar in der Tasche, konnte mir also eines der Taxis leisten, die am Kai standen. Wir fuhren zum Fenster der Gepäckausgabe, nur ein paar Meter weiter, und nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war und meinen Koffer entgegengenommen hatte, hörte ich, wie der Fahrer den Mann am Schalter mit mißtrauischer, feindseliger Stimme fragte: «Spricht sie Englisch?»
«Ganz bestimmt spreche ich Englisch», sagte ich entrüstet. Zum ersten Mal in meinem Leben in den Vereinigten Staaten hatte ich so mutig meine Stimme erhoben.
A stronomiestunde
E ines frühen Abends lieh ich mir einen Kombi von einem der Sozialarbeiter von Sleepy Hollow, einer Art Jugendheim in Dobbs Ferry, New York. Sieben halbwüchsige Jungen warfen sich auf die Sitze, schrien, brüllten, knufften sich, lachten. Als ich mich hinters Steuer setzte, wurden sie alle ein bißchen ruhiger. Das war Mitte der fünfziger Jahre.
Ich hatte den Job als Tutorin über einen Freund bekommen. Sleepy Hollow wurde zum Teil von der Schulbehörde Manhattans verwaltet; die Einrichtung war nicht konfessionell gebunden. Die meisten Kinder hatten Probleme und lebten mit Pflegeeltern in kleinen Wohnhäusern. Tagsüber wurden sie von Sozialarbeitern betreut. Manche gingen in eine staatlichen Schule außerhalb der Wohnanlage; die Hälfte jedoch nicht. Der Psychiater, der einmal im Monat zu Besuch kam, hatte sie als sozial unverträglich eingestuft.
Sie waren zwischen elf und siebzehn Jahre alt. An jenem Abend waren sie ungeheuer aufgeregt – sie durften die Einrichtung verlassen – und schienen jeden Atemzug als neue Entdeckung zu empfinden. Alle waren als Kinder mißhandelt worden: Mißbrauch, Prügel, Vernachlässigung – einer der Jungen, Jimmy, war sogar als Säugling auf einer Müllkippe ausgesetzt worden. Frank, der älteste Junge, war schwarz. Er war groß und dünn, leichtfüßig und schnell auf den Beinen, wie gemacht für Basketball, wie er selbst sagte. Aber Sport war ihm egal. Er war am Weltraum interessiert. Vor allem seinetwegen hatte ich die Verabredung mit Dr. Lloyd Motz getroffen, dem Professor für Astronomie an der Columbia University, daß die Jungen das Teleskop auf dem Dach des Pupin Building benutzen durften. Dorthin waren wir an diesem Abend unterwegs.
Frank hatte den größten Teil seines Lebens in Pflegeheimen verbracht. Er hatte etwas Entwurzeltes, schien immer kurz vor dem Aufbruch zu stehen. Er hockte auf
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