Der Kaffeehaendler - Roman
niemand da war, den er beeindrucken oder unterweisen konnte. Miguel hingegen segnete sein Essen jedes Mal. Sie hatte andere Männer in der Vlooyenburg erlebt mit ihrem Hebräisch und ihren Segnungen, und oft waren sie ihr dabei zornig oder beängstigend oder befremdlich erschienen. In Miguels Worten jedoch lag Entzücken, als fiele ihm jedes Mal, wenn er die Gebete sprach, etwas Wunderbares ein. Jedes Mal von Neuem lauschte sie gebannt diesen seltsamen Worten, wenn er sie aussprach – nicht genuschelt und halb verschluckt wie bei manchen Männern, sondern klar artikuliert wie ein Oratorium. Sie lauschte der Poesie einer fremden Sprache, deren Kadenzen und Wiederholungen sich gegenseitig ergänzten. Und sie wusste, dass alles anders wäre, wenn sie statt Daniel Miguel zum Ehemann hätte.
Dies war nicht nur eine müßige Fantasie. Während Daniel in seiner Magerkeit aussah wie ein Bettler in Kaufmannskleidern, war Miguel rund und rosig und herzlich. Obgleich Miguel der Ältere war, wirkte er jugendlicher und gesünder. Seinen großen schwarzen Augen flitzten ständig hierhin und dorthin, nicht nervös wie Daniels, sondern voller Freude und Neugier. Und sein Gesicht war so rund – zart und trotzdem stark. Wie wäre es wohl, so fragte sie sich, mit einem Mann verheiratet zu sein, der das Lachen liebte und nicht mit Widerwillen
betrachtete, der das Leben willkommen hieß, statt es argwöhnisch zu beäugen?
Es war eine Ironie des Schicksals. Sie wusste, dass ihr Vater eine Verbindung mit den Lienzos gesucht und gewollt hatte, dass seine Tochter den älteren Sohn heiratete. Hannah hatte beide nie kennen gelernt, deshalb war es ihr einerlei. Doch dann hatte der ältere Sohn sich erdreistet, ohne die Billigung seiner Familie ein mittelloses Mädchen zu heiraten, und ihr Vater hatte sich für den jüngeren Lienzo entschieden. Als Miguels Frau starb, nur vier Monate später, war Hannah bereits mit Daniel verehelicht.
Was würden ihr diese Gebete bedeuten, wenn sie Miguel geheiratet hätte? Daniel wusste nahezu nichts über die Liturgie. Er ging zur Synagoge, weil die Parnassim das von ihm erwarteten, insbesondere sein Freund Solomon Parido (gegen den Hannah wegen seines mürrischen Verhaltens gegenüber Miguel eine Abneigung hegte). Für sie waren diese Besuche langweilig, und oft genug hatte sie fernbleiben dürfen, aber jetzt, da sie schwanger war, bestand er auf ihrer Begleitung, damit die Männer der Gemeinde sich seiner Männlichkeit bewusst wurden. Mehr als einer hatte ihm schon einen Sohn gewünscht, damit er jemanden hatte, der bei seinem Tod das Kaddisch für ihn sprechen konnte.
Er hatte nicht einmal privat mit Hannah über das Judentum gesprochen, ehe sie ihre Vorbereitungen trafen, nach Amsterdam zu übersiedeln. Ihr Vater und ihre drei Brüder waren alle heimlich fromme Juden gewesen, doch das erfuhr sie erst kurz vor ihrer Hochzeit, als sie sechzehn Jahre alt war. Am Vorabend ihrer Trauung erklärte der Vater ihr, dass er, weil ihre Mutter im ganzen Land für ihr loses Mundwerk bekannt war, angenommen hatte, Hannah besitze denselben Wesenszug. Nur deshalb hatte er seiner Tochter die Wahrheit nicht anvertraut. Zum Wohle der Familie war sie in dem Glauben aufgewachsen,
sie sei eine Katholikin, die als Katholikin betete und als Katholikin die Juden hassen musste. Nun, da sie sich darauf vorbereitete, diesen Fremden zu heiraten, der für sie ausgewählt worden war, ohne sie auch nur nach ihrer Meinung gefragt zu haben (er hatte zweimal bei ihrer Familie gegessen, und Hannah hatte, wie ihr Vater betonte, sein linkisch verkniffenes Lächeln, das aussah wie die Grimasse eines schmerzgeplagten Mannes, höflich erwidert), hatte ihr Vater beschlossen, sie in das Familiengeheimnis einzuweihen.
Das Geheimnis: Sie war nicht der Mensch, der sie immer zu sein geglaubt hatte; selbst ihr Name war eine Lüge. »In Wahrheit heißt du nicht Bernarda«, sagte er ihr, »du heißt Hannah, und das ist auch der richtige Name deiner Mutter. Von heute an musst du dich Hannah nennen, aber nicht in der Öffentlichkeit, denn das würde uns alle verraten, und ich hoffe, du bist nicht so dumm, das zu tun.«
Wie konnte sie Jüdin sein? War es möglich, dass sie einer Rasse von Kindermördern und Brunnenvergiftern angehörte? Bestimmt war ihr Vater einem Irrtum aufgesessen, den ihr Mann aufklären würde, deshalb hatte sie bloß genickt und versucht, nicht zu oft daran zu denken.
Doch wie sollte sie nicht daran denken? Ihr Vater hatte ihr
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