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Der Kaiser des Abendlandes

Der Kaiser des Abendlandes

Titel: Der Kaiser des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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schienen nun seltener zu zucken. Das Krachen der Donnerschläge kam jetzt nicht mehr von Westen oder aus den Wolken über dem Felsendom, sondern mehr aus dem Osten. Dorthin trieb der Sturm das Gewitter. Während es unverändert regnete – wolkenbruchartig, dann gar nicht mehr, dann wieder sanft oder abermals in wahren Sturzbächen –, erschien im Westen ein fingerdünner Streifen Himmel. Zunächst war er feuerrot, dann färbte er sich weiß, schließlich wurde er blau. Die Sonnenscheibe blieb unsichtbar; noch lastete schweflige Finsternis über der Stadt.
    »Wir sind in meinem Haus nicht am tiefsten Punkt der Gasse«, sagte Uthman und blickte durch die Vorhänge aus Wassertropfen, die von den Dachziegeln auf den Kiesweg herunterrannen. »Mein kluger Vater hat das richtige Haus gekauft. Also wird kein Wasser in Mustansirs Gewölbe sein.«
    »Selbst wenn es so wäre, würden wir kaum ertrinken«, antwortete Sean. »Weißt du, wo Henri ist?«
    »Ich glaube, er ging mit Joshua und dem wortkargen Dunkelhäutigen zu diesem weisen Rabbi. Er braucht Ratschläge, die er an dich und Suleiman weitergeben kann, hat er gesagt.«
    »Nur zu«, brummte Sean. »Gute Ratschläge sind mehr wert als schlechte Vorwürfe.«
    Uthman nickte schwer. »Inshallah.«
    Sie blieben sitzen und warteten das Ende des Gewitters ab. Mara brachte einen Krug mit frischem Kräuteraufguss, füllte die Becher und setzte sich schweigend zu ihnen. Die drei sahen zu, wie sich die Erde der Gartenbeete in wässerigen Schlamm verwandelte und wie der Regen welkes Laub von den Bäumen riss. Das Gewitter hing über der Stadt, und in der folgenden Zeit kreiste es, schwächer werdend, über dem Land außerhalb der Mauern. Ein Sonnenuntergang in auflodernden Wolkenbänken beschloss den Tag. Die Gewitterwolke zog weit vor Mitternacht davon, und eine wunderbare Kühle breitete sich in der reinen Nachtluft aus.
    Sechs Tage nach dem Gewitter, das einige Tote gefordert und eine Vielzahl eingestürzter Mauern verursacht hatte, wölbte sich wieder ein strahlend blauer Himmel über der Stadt. Die Gefährten saßen im Schatten auf dem Dach; Sean und Suleiman hatten, zusammen mit einigen Tagelöhnern, das Palmwedelgeflecht erneuert. In dieser Nacht, so hatten es Sean und Suleiman ausgemacht, würde wieder das Schwert der Armen durch die Gassen ziehen.
    Henri füllte seinen Becher mit Milch, rührte einige Löffel Honig hinein und ließ seine Blicke über die Dächer und Baumkronen gleiten. »Ich hab’s zuerst nicht geglaubt, Freunde, aber schon am Tag nach dem langen Regen hat die Stadt ganz anders gerochen.«
    »Das ist wahr«, pflichtete ihm Joshua bei. »Das viele Wasser hat die kleinen täglichen Sünden der Bewohner Jerusalems weggewaschen. Was wir nun schmecken und riechen, ist die reine Stadt.«
    »Die kaum lange so rein bleiben wird«, sagte Uthman. »Auch das ist wahr.«
    »Sich selbst zu erkennen, sagt jedes der heiligen Bücher, ist das Schwerste von allem, Uthman.« Joshua nahm umständlich seine Brille ab und fuhr fort: »Diese Selbsterkenntnis ist notwendig, wenn unsereiner ohne falsche Scheu über den Gott und die Religion des anderen reden will.« Er blickte zuerst Uthman und Suleiman an, dann Henri und Sean.
    »Also müssen wir erst uns selbst erkennen, ehe wir erkennen können, wie es um den anderen steht?«, erkundigte sich Suleiman.
    Joshua nickte.
    Henri überlegte eine Weile und sagte dann: »Nicht immer bedeutet Verstehen auch Verzeihen. Wenn du weißt, warum der andere etwas tut, fällt es dir leichter, ihn nicht zu hassen.«
    »Und dieses Verstehen kann ich – können wir – lernen?«, erkundigte sich Sean.
    Uthman hob warnend den Zeigefinger und sagte mit gutmütigem Spott: »Maxima debetur puero reverential.« Er übersetzte den Spruch für Sean und Suleiman: »Größte Aufmerksamkeit schulden wir dem zu erziehenden Knaben! Wir drei sind von unterschiedlicher Herkunft und nicht wirklich gleichaltrig. Außerdem sind wir uns längst nicht aller Gegensätze unserer Religionen bewusst. Also ist das gegenseitige Verstehen keineswegs leicht.«
    »Dass es leicht ist, hab ich auch nie geglaubt«, sagte Sean. »Was denkst du darüber, Suleiman?«
    »Ich denke an deine Erzählungen, Henri. Von deiner Verzweiflung, deinem Leben voller Kampf, von der Stille in deinem Herzen. Ich kann das alles nicht verstehen, weil ich so viel jünger bin.«
    »Es wird sich ändern mit jedem Tag, mit dem du älter wirst«, antwortete Henri.
    Joshua und Uthman nickten. Sie

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