Der Kaiser des Abendlandes
doch meist trabten sie in kräfteschonender Gangart gen Sonnenaufgang. Für einige Zeit blendete sie das Tagesgestirn, dann erst war die Sonne zur Rechten in den wolkenlosen Himmel geklettert. Sean sah viele Zeichen, und obschon er sie nicht kannte, schienen sie selbst ihm, dem Fremdling in diesem Land, zu zeigen, dass das Jahr bald endete. Die Geburt Jesu jährte sich, das neue Jahr ließ nur noch eine Handvoll Tage auf sich warten.
Wenn er sich daran zu erinnern versuchte, was er allein in diesem Jahr erlebt hatte, schwindelte ihm. Unaufhörlich und unaufhaltsam verstrich die Zeit, Tage um Tage, und noch immer besaß er keine Vorstellung vom eigentlichen Ziel seines Lebens. Die Ereignisse rissen ihn mit sich, wie Sand an der windabgewandten Seite einer Düne, die ununterbrochen in Bewegung war.
Was war mit Henri, seiner harten Schule und der väterlichen Besorgnis, die er unter Härte und Zucht verbarg? Hatte er noch immer ein festes Ziel vor Augen? Alles, was Sean kannte und wusste, verdankte er seinem Ziehvater. Wirklich alles? Doch! Schon allein deswegen, weil Henri vier Jahrzehnte älter war, mehr erlebt und verstanden, mehr gezweifelt und gekämpft hatte. Aber auch er selbst, dachte Sean, hatte bewiesen, dass er in einer Welt voller Überraschungen und neuer Herausforderungen ganz gut zurechtkam.
»He! Träumer! Fall nicht vom Pferd!«
Suleimans Ruf brachte ihn wieder in die sonnengrelle Wirklichkeit zurück. Er hob die Hand, blickte prüfend um sich, konnte keine Gefahren entdecken und drehte sich halb um.
»Ich habe nicht geträumt, sondern meine Gedanken auf die Reise geschickt. Das solltest du auch einmal versuchen.«
»Ich hab genug damit zu tun, auf dich aufzupassen.«
Sie ritten in der Mitte der Straße, die auf die Entfernung von ungefähr einer Meile leer war. Die ersten kahlen Hügel und Felsen tauchten in der flirrenden Luft auf. Zwischen ihnen verschwand das schmutzig gelbe Band der Straße im ersten kurzen Schatten, der mehr zu ahnen als zu sehen war. Am Himmel zeigten sich kleine Mittagswolken. Über die leeren Sandflächen tanzten gelbe Staubwirbel, wuchsen an, veränderten ihren Weg und fielen wieder in sich zusammen.
»Schon gut«, rief Sean zurück. »Schwitzen fördert das Denken und die Tagträume.«
»Heute Abend kannst du weiterträumen. Wenn ich wieder allein alle Arbeit mit unserem Lager habe.«
»Schon gut, Suleiman«, wiederholte Sean lachend und wischte den Schweiß aus seinem Gesicht. »Du schwitzt und denkst nicht. Das besorge besser ich.«
Er bekam keine Antwort.
Von Husain hatten sie dürre Hölzchen und einige dicke Scheite mitgenommen. Als Sean zahlen wollte, hatte der Herr der Oase nur großmütig abgewinkt. Sean hatte die Last losgeschnallt und den Vorrat zum Feuerkreis geschleppt. Das Feuer, das er angefacht hatte, schickte wunderliche Wirbel kleiner und großer Funken in die Schwärze der Nacht über dem Felsenkessel. Es war ein Ritt ohne jeden Zwischenfall gewesen; ein doppelter Grund zur Wachsamkeit. Sean bereitete das Essen und den Sud vor, während Suleiman in der Dunkelheit zwanzig Ellen vor dem Felsspalt im Sand hockte und mit der Spitze seines Schwertes kleine Hügel aufhäufte.
Die fünf Tiere hatten vom großen Vorrat an Frischwasser gesoffen und knabberten am vergilbten Gras und ein paar Körnern. Die Felsen, die in der nächtlichen Kälte abkühlten, knisterten und knackten; ein gewohntes Geräusch in diesen Nächten, dessen Ausbleiben die Männer beunruhigt hätte. Nachtschwärmer, Motten und Mücken stürzten sich, wie bei jedem nächtlichen Feuer, summend und knisternd in die Flammen. Der Rauch schmeckte süßlich nach jahrzehntealten Palmstämmen.
»Du musst nicht verhungern!«, rief Sean. »Alles ist bereit!«
Bevor Sean Suleimans Schritte im Sand hörte, schien der Freund etwas gerufen zu haben. Er trug das blanke Schwert in der Hand und setzte sich auf einen der beiden Sättel.
»Alles ruhig dort draußen?«
»Still und warm wie in Ibrahims Schoß«, antwortete Suleiman und streckte die Beine aus. Sean blickte langsam um sich und sagte sich, in plötzlicher Einsicht, dass es kaum eine zweite Möglichkeit gab wie auf einem solchen Ritt, zu erkennen, wem man sein Leben anvertrauen durfte. Er hatte sein Leben in Suleimans Hände gelegt, und Suleiman tat dasselbe. War es diese Einsicht, die Henri ihn lehren wollte? Wahrscheinlich. Trotz allem war seine Unruhe nicht geringer geworden. Er warf den Bogen und den Köcher über seine Schulter,
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