Der Kaiser von China
Großvater hatte uns nämlich Karten fürs Tiandi-Theater besorgt. Ich war eigentlich zu müde und zu hungrig, aber das ließ Großvater nicht gelten. »Wer nach China reist, ohne sich Akrobaten anzuschauen, hätte ebensogut in den Westerwald fahren können«, behauptete er, und außerdem habe er bereits gegessen. Über sein morgendliches Unwohlsein verlor er kein Wort mehr. Im Taxi war er ganz aufgeregt. »Wie war dein Tag?«, fragte er zwar, hörte meinen Erzählungen dann aber nicht zu, sondern sah nur immer wieder auf die Uhr. Wie weit es wohl noch sei, fragte er alle paar Minuten mehr sich selbst als mich, der das schließlich auch nicht wusste.
Wir kamen gerade noch pünktlich. Ich war zu erschöpft, um der Vorstellung richtig folgen zu können, es wurde viel gesprungen, es wurde sich viel gestapelt, es wurde sich für meinen Geschmack etwas zu viel verrenkt, alles ging schnell und durcheinander, sodass ich bis zum Schluss nicht genau wusste, wie viele Akrobaten dort eigentlich in ihren roten Kostümen herumwirbelten, es schienen mindestens vierzig zu sein, vielleicht waren es aber auch nur drei.
Großvater war vollkommen gebannt, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit gab er die gesamte Vorstellung über keinen einzigen Kommentar ab, er schrie nicht auf wie der Rest des Publikums, wenn der kleine Junge wieder einmal in schwindelerregender Höhe ein paar Meter weit durch die Luft geworfen wurde, noch jubelte er erleichtert, wenn der Junge dann sicher am Arm eines seiner Mitstreiter baumelte, er reagierte überhaupt nicht, nicht einmal zum Schlussapplaus, nach dem Finale sprang er sofort auf und rannte nach draußen, fast eine halbe Stunde wartete ich vor dem Ausgang auf ihn. »Wir können«, sagte er, und über irgendetwas schien er enttäuscht zu sein.
Auf dem Donghuamen-Nachtmarkt aß ich noch einen Kebab, Großvater trank übel gelaunt ein Bier. üb ich wisse, dass Peking in wenigen Jahren von der Wüste Gobi verschüttet werde, fragte er mich. Sie sei nur noch hundertfünfzig Kilometer entfernt und krieche von Tag zu Tag näher. Dann sei hier Schluss mit lustig, und er persönlich werde keine Träne darüber vergießen. Einen Tag müsse er hier noch aushalten, sagte ich, denn unser Zug nach Xi'an fahre erst morgen Nacht. Großvater schüttelte den Kopf. »Zeitverschwendung«, sagte er.
Er schläft jetzt, unruhig und lautstark. Ich sitze auf der Bettkante neben ihm und schreibe Euch. Draußen hat Regen eingesetzt, und es klingt, als ob er eine ganze Zeit bleiben wolle. Zum ersten Mal kein Verkehrslärm, nur das wütende Prasseln der Tropfen. Ich bin längst nicht mehr müde.
Lasst es Euch gut gehen,
K.
Ob wir gestern eigentlich sehr viel verloren hätten, fragte Franziska dann am Abend. Sie war unangekündigt vorbei gekommen und hatte sich sofort aufs Bett gelegt, ihre Stimme war noch brüchig, eine Sonnenbrille verdeckte die obere Hälfte ihres Gesichts. »Es geht«, sagte ich, und Franziska nickte erleichtert. »Gut«, sagte sie, an allzu viel könne sie sich nämlich nicht erinnern und sie habe sich schon Sorgen gemacht. Aber an das mit der Hochzeit erinnere sie sich doch richtig, fragte sie und lachte, und ich war versucht, verwundert mit dem Kopf zu schütteln, »Hochzeit?« zu fragen, »Wie kommst du denn darauf?« zu fragen, aber wenn Franziska damit rechnete, dass ich nun bestimmt alles wieder zurücknehmen würde, hatte sie sich getäuscht, ich nickte nur und lachte mit, weil irgendetwas daran bestimmt zum Lachen war, ich wusste nur nicht genau, was.
Wir lachten unangenehm lange, beide wollten wir wohl nicht damit aufhören, denn dann hätten wir uns irgendwie verhalten müssen, zwei Wochen lang würden wir uns nun irgendwie verhalten müssen, bis zur Hochzeit, bei genauer Betrachtung auch danach noch, aber dann wären immerhin Tatsachen geschaffen, das würde es einfacher machen.
Und weil ich aber keine Ahnung hatte, wie ich mich verhalten sollte, weil ich die zwei mühsamen Wochen am liebsten überspringen wollte, sagte ich, dass ich nun leider keine Zeit mehr hätte, ich müsse nämlich dringend packen, und fing an, wahllos irgendwelche Dinge auf einen Stapel zu werfen, und Franziska hob den Kopf vom Bett. »Wo geht es denn hin?«, fragte sie. »Nach China«, sagte ich, das hätte ich ihr doch erzählt, und sie ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken. »Natürlich«, sagte sie und kicherte, »China«, und ich fragte, was es denn da bitte zu kichern gebe, ich hätte meinem Großvater nun
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